«Heartbleed» und NSA: Das Internet ist erkältet

Nr. 16 –

Der Name tönt dramatisch. Und was dahintersteckt, kommt dem GAU gleich. «Heartbleed», Herzbluten, ist die gravierendste Sicherheitslücke seit Erfindung des Internets. Und ja, die Bezeichnung ist angemessen, die Lage ist prekär.

«Heartbleed» ist eine Lücke in der weitverbreiteten Verschlüsselungstechnik OpenSSL, die für den sicheren Login bei Diensten wie Facebook oder Dropbox ebenso verwendet wird wie beim Onlinebanking. Die Sicherheitslücke blieb zwei Jahre unentdeckt, aber ob und wie oft sie ausgenutzt wurde, lässt sich nachträglich nicht herausfinden. Es ist, als hätte man vergessen, den Banktresor abzuschliessen. Und jetzt ist niemand in der Lage zu prüfen, was geklaut wurde.

Das Internet sei kaputt. Diese Ansicht wurde schon früher vertreten, aber in jüngster Zeit scheint sich der Eindruck verfestigt zu haben, das tatsächlich verdammt viel verdammt falsch gelaufen ist. «Heartbleed» ist ein Erdbeben, das das Vertrauen in eine verheissungsvolle Technologie erschüttert, aber es ist bei weitem nicht das einzige.

Das letzte Jahr war geprägt von den Überwachungsskandalen um den US-Auslandsgeheimdienst NSA. Die Pessimistinnen und die Zyniker hatten es ja schon immer gesagt. Und leider muss man heute sagen: Sie hatten recht, selbst die schlimmste Überwachungsparanoia wirkt heute untertrieben. Aber ist das Internet deswegen am Ende?

Wir befinden uns, nach einer agrarischen und einer industriellen, mitten in einer digitalen Revolution. Der Anfang dieser Internetrevolution war geprägt von dezentralen Strukturen, Transparenz und Kooperation. Kein Wunder, erhofften sich viele «Cyber-UtopistInnen», wie der Publizist Evgeny Morozow sie nennt, die Befreiung der Menschheit durch die neue Technologie. Aber wie jede Technologie ist auch das Internet nicht neutral – es kann zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden. Die Tatsache, dass das Internet eine militärische Erfindung ist, hätte einen Hinweis darauf geben können, in welche Richtung es sich entwickelt.

Felix Stalder, Professor für digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste, sieht uns in einer «gegenrevolutionären Phase», wie er kürzlich in einem Beitrag für «Le Monde diplomatique» schrieb. Waren in einer ersten Phase die neuen Möglichkeiten der Kommunikation entscheidend, sind es heute das Sammeln und Auswerten von Daten. Der Unterschied ist entscheidend. Kommunikation funktioniert grundsätzlich horizontal, der Inhalt ist entscheidend, ihr Ausdruck möglichst vielfältig. Daten hingegen sind vertikal, ausschlaggebend sind die Menge und ihre Einheitlichkeit. Letztlich geht es um eine Machtfrage. Wer gewinnt: die Community oder das Datacenter?

Dieser Kampf wird uns weiter beschäftigen, die Krise des Internets ist tiefgreifend, Vertrauen und Sicherheit sind korrumpiert. Was tun?

Es braucht neue Gesetze und offene Strukturen. Aber einer transnationalen Technologie ist mit nationalen Regeln nicht beizukommen. Deshalb kann nicht alles der Politik überlassen werden. Stattdessen müssen wir mehr auf Open Source und Open Data setzen, wir brauchen mehr Kryptografie und mehr dezentrale Netze. Denn offene Quellcodes ermöglichen eine bessere Kontrolle durch die Community und offene Daten eine demokratische Teilhabe, weil sie das Wissensgefälle verkleinern. Verschlüsselte Kommunikation funktioniert, wenn sie richtig angewendet wird. Sie garantiert zwar nicht in jedem Fall Privatsphäre, aber sie erschwert die Überwachung wesentlich. Dasselbe gilt für dezentrale Netzstrukturen. Und natürlich braucht es auch zivilen Widerstand gegen die neuen Datenherrscher, seien es private wie Facebook oder staatliche wie die NSA. «Hacking, Leaking, Sabotage», forderte die Berliner «taz» kürzlich in einem Leitartikel. Selbstverständlich, aber reicht das?

Wer die Verhältnisse ändern will, muss sie zuerst verstehen. Es geht also auch um Empowerment, um Selbstbefähigung. Das heisst nicht, dass jeder gleich ein Programmierer werden muss. Aber Aufmerksamkeit, Interesse und Gelassenheit sind bessere Ratgeber als Unwissen und Technologiefeindlichkeit.

Das Internet ist nicht kaputt, es ist bloss schwer erkältet.