Pop: Die singende Perücke mit der Quecksilberstimme

Nr. 27 –

Sie ist die Hitfabrik: Die australische Sängerin Sia bedient Stars, die berühmter sind als sie selbst. Sie ihrerseits bleibt lieber ein Phantom.

Ein Popstar, der uns nur als Phantom erreicht: Sia (links) mit einem unbekannten zweidimensionalen Kollegen.

Sehr merkwürdig, was sich vor ein paar Wochen in der Talkshow von Ellen DeGeneres auf dem US-Sender NBC zutrug. Ein grosser Spuk war das, ein schamanisches Ritual, das an der Leiche der Popmusik vollzogen wurde. Angekündigt war ein musikalischer Stargast, doch als das Licht auf der Bühne anging, sah man erst nur ein Mädchen mit blonder Perücke, das in Unterwäsche wie verrückt zwischen den Kulissen eines fleckigen Wohnzimmers tanzte. Der gespenstische Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Bewegungen dieser halbwüchsigen Ballerina exakt die gleichen waren wie im dazugehörigen Musikvideo. Dort sehen wir dasselbe Kind, ein TV-Sternchen namens Maddie Ziegler, durch eine schäbige Wohnung tanzen, eine beängstigend aufgeputschte Aufziehpuppe, die in ihrer Einsamkeit in den Wahnsinn abgeglitten ist.

Im Video tanzt das Mädchen ganz für sich allein, aber bei DeGeneres war da noch jemand auf der Bühne. Ganz hinten in der Ecke stand ein geisterhaftes Wesen in einem fahlen Lichtkegel, eine blonde Frau, fast regungslos und mit dem Rücken zum Publikum. Die Frau ohne Gesicht sang live, sie sang so furios, dass einem der Atem stockte, und sie drehte sich auch dann nicht um, als ihr Ellen DeGeneres unter Applaus zum Auftritt gratulierte.

Das Lied war «Chandelier», es handelt vom bodenlosen Glück des Rauschs. Ein Prunkstück von einem Popsong, schwindelerregend euphorisch und permanent absturzgefährdet. Ein Song auch, den man demnächst in jeder Castingshow hören wird, und zwar immer dann, wenn eine besonders selbstbewusste Kandidatin beweisen will, dass sie alles, aber auch wirklich alles drauf hat: die Zerbrechlichkeit, den Pomp, die totale Verausgabung.

Angst als Treibstoff

Das singende Phantom hinten in der Ecke war Sia Furler, genannt Sia, australische Songschreiberin und unfassbares Popgeschöpf mit einer Stimme wie Quecksilber. Wer versucht, mal eben ihr musikalisches Feld abzustecken, riskiert böse Verrenkungen. Sia hat schon «Paranoid Android» von Radiohead eingespielt, als betörend verhuschte Kammermusik nur mit Klavier und Streichquartett. Für den Soundtrack zu Baz Luhrmanns «The Great Gatsby» (2013) hat sie «Kill and Run» geschrieben, eine dunkel bebende Ballade, abgründiger als der ganze Film. Und sie hat, durchaus rufschädigend, zuletzt auch am offiziellen Song zur Fussball-WM mitgeschrieben.

Wer also ist Sia? Neuerdings vor allem eine Hitmaschine für Stars, die berühmter sind als sie selbst. Daran wird sich auch jetzt nicht gross was ändern, wenn «1000 Forms of Fear» erscheint, ihr bereits sechstes Album unter eigenem Namen, produziert von Greg Kurstin (Lily Allen, The Shins). Die Zahl im Titel ist ein wenig hochgestapelt, aber der Rest ist wahr: Angst wirkt als Treibstoff auf diesem Album. Sucht und Wahnsinn, Unterwerfungsfantasien und andere gefährliche Geschlechterduelle, das sind hier die Motive. Eine begnadete Texterin ist Sia nicht, aber ihr melodischer Instinkt ist überragend. Und wenn sie ihre Stimme bis an den Punkt treibt, an dem sie fast kollabiert, bekommt man Herzflimmern. Sia, das ist etwas, was es eigentlich gar nicht gibt: fragiler Bombast.

Bloss nicht im Rampenlicht

Sie wird mit dieser Platte nicht die neue Lady Gaga werden – allein schon, weil sie mit ihren 38 Jahren dafür vermutlich zu alt ist. Sia wird aber auch keine Konzerte und so gut wie keine Interviews geben; die Termine zu Werbezwecken hat sie vertraglich auf fünf Auftritte beschränken lassen, darunter der Spuk bei DeGeneres. Ansonsten bleibt Sia inkognito. Der Popstar erreicht uns nur als Phantom, wie das so ähnlich auch Prince ausprobiert hat, als er sich in seiner Auflehnung gegen die Musikindustrie zeitweise zum Symbol verflüchtigte.

Bei Sia, so beteuert sie selbst, ist diese Verweigerung kein Trotz, sondern nackte Psychohygiene. Es gab ja eine Zeit, da war sie schon einmal auf dem Sprung zum Weltstar. Angefangen hat das vor fast zehn Jahren, als ihre Klavierballade «Breathe Me» (2004) das Finale der letzten Staffel von «Six Feet Under» wattierte. Sia war damals knapp dreissig Jahre alt, hatte schon drei Platten hinter sich, bei steigender Verkaufskurve. Es folgten zwei weitere Alben, viele Konzerte, danach war sie kaputt, zerschlissen von den Nebenwirkungen des Erfolgs. Diagnose: Panikattacken, bipolare Störung, Alkoholsucht, das bekannte Programm. Sia wollte singen. Aber weiter im Rampenlicht stehen? Lieber nicht. Also fing sie an, ihre Dienste denen anzubieten, die immer neue Songs brauchen, weil sie selbst keine schreiben.

Sia wurde zur Hitlieferantin. In den letzten vier Jahren schrieb sie Songs für Beyoncé, Britney Spears oder Céline Dion, Rihanna verdankt ihr die Hitsingle «Diamonds». (Und wer nun meint, Sia moduliere ihre Stimme manchmal ganz ähnlich wie Rihanna, muss sich sagen lassen, dass es gerade umgekehrt ist: Es ist Rihanna, die Sia imitiert, wenn ihre Version von «Diamonds» genau dem Demotape ihrer Songschreiberin entlangsingt.) Sia Furler sorgt also dafür, dass Superstars die Melodien bekommen, die sie benötigen, um berühmt zu bleiben. Sie selbst wird bloss reich dabei. Und kann sich darum leisten, die Regeln des Starsystems zu ignorieren, indem sie das Theater um ihr neues Album weitgehend unsichtbar absolviert.

Aber diese Geste der Verweigerung ist natürlich wieder nur Pop in Reinkultur, weil der ganze orchestrierte Kult um den unsichtbaren Star ja seinerseits zum aufreizenden visuellen Ereignis wird. Das fängt mit dem Video zu «Chandelier» an, in dem sich Sia von dem tanzenden Mädchen vertreten lässt. In der Talkshow von Seth Meyers war es dann Lena Dunham («Girls»), die den Part des Mädchens übernahm, samt blonder Perücke. Und auf dem Cover von «1000 Forms of Fear» gerinnt die Verweigerungshaltung vollends zum Logo: Schlecht abfotografiert vor schwarzem Hintergrund, sehen wir Sias Ponyfrisur als leere Perücke.

Das Gegenteil von Gaga

Der Star als Projektionsfläche für unsere Fantasien: Sia treibt das nicht nur auf die Spitze, sie stilisiert sich damit auch als Gegenmodell zu fast allen weiblichen Popstars, die heute den Ton angeben. Bei Madonna, Lady Gaga oder neuerdings Miley Cyrus ist es ja so, dass weibliche Identität auf der Bühne und in den Videos immer entlang derselben Parameter vollzogen wird: Disziplinierung des Körpers, kalkulierte Selbstentblössung, serielle Maskerade. Sia bedient nichts davon, gibt sich nur noch als Leerstelle preis. Als Chiffre ihrer Identität bleibt einzig diese blonde Perücke, und die erinnert nicht von ungefähr an Andy Warhol. Der hatte seine Factory, Sia ist selbst die Hitfabrik.

Lady Gaga hat ja neuerdings den irgendwie rührenden Anspruch, die Banalisierung von Pop rückgängig zu machen: Sie wolle der Kunst die Aura zurückgeben, die Warhol atomisiert habe. Sia Furler dagegen erinnert uns daran, dass es im Pop gar nicht um Aura geht. Die Gaga ist eine einzige hysterische Maskerade, die kaschieren soll, dass nichts dahinter ist. Bei Sia, der Frau ohne Gesicht, ist es umgekehrt: Die Fassade ist blank, aber in der Stimme der Wahnsinn.

Das Album erscheint am 4. Juli.

Sia: 1000 Forms of Fear. Sony

Nachtrag vom 22. Januar 2014 : Sia, Shia und der Käfig des Ruhms

Letztes Jahr war sie die atemberaubendste Leerstelle im Popzirkus: Sia, das blonde Phantom, das in «Chandelier» das Glücksversprechen des Rausches besang. Zerbrechlicher Bombast, immer hauchdünn dem Abgrund entlang. Jetzt hat die «singende Perücke» ein Video zu «Elastic Heart» gemacht, wieder ohne Sia selbst, dafür mit dem Hollywoodstar Shia LaBeouf, der hier wie ein bärtiges Tier durch einen riesigen Käfig streunt. Er stösst darin auf Maddie Ziegler, den Kinderstar, der im Video zu «Chandelier» wie eine manisch-depressive Aufziehpuppe durch eine gammlige Wohnung tanzte, als Alter Ego der Sängerin. Zwischen Mann und Mädchen entspinnt sich nun ein Nahkampf der Geschlechter: zärtliche Gewalt, getanzt hinter Gittern.

Und weil beide, LaBeouf (28) und Ziegler (12), eng anliegende hautfarbene Trikots tragen, hat sich in den USA bereits die moralische Empörung der Selbstgerechten daran entzündet: eine Anleitung zur Pädophilie? Ein verkappter Kinderporno gar? Sie habe angesichts des Videos fast kotzen müssen, gab eine besonders besorgte Mutter zu bedenken, die in der TV-Show «Dance Moms» ihre Tochter in aller Öffentlichkeit zu einem kleinen Tanzstar drillt. Protest kommt also ausgerechnet aus jener obszönen Ecke des Realityfernsehens, wo der Celebritykult in eine Form von medialer Kinderprostitution überführt wird. Und wo, nebenbei gesagt, auch Maddie Ziegler zum Produkt geschliffen wurde.

Und Sia, der Popstar, der lieber inkognito bleibt? Die traut sich jetzt auch wieder vor die Leute, aber ihr Spiel mit der Unsichtbarkeit droht dabei ins Lächerliche zu kippen: Ihren Gastauftritt jüngst in der TV-Show «Saturday Night Live» absolvierte sie mit einem seltsamen schwarzen Blendschutz vor dem Gesicht. Es sah irgendwie hohl aus, und der traurig geschminkte Mime, der während «Chandelier» neben ihr stand und die Worte in Gebärdensprache übersetzte, machte die Sache auch nicht besser. Den Song selber, diese übersteuerte Euphorieschleuder, gab sie dabei als Klavierballade samt Streicher. Mutation geglückt, Maskerade weniger.

Florian Keller