Essen in der Gesellschaft: Keine Flausen in der Küche!

Nr. 29 –

Sich mit der Spitzenküche auseinanderzusetzen, heisst, die eigene Esskultur zu verfeinern. Aber aufgeblasen wollen wir es nicht.

Wenn ich für einen schlechten Kaffee vier Franken fünfzig ausgegeben habe, ärgere ich mich. Doch wenn ich zu zweit oder zu viert in einem Feinschmeckerlokal einen Abend lang getafelt und getrunken habe und meine Erwartungen erfüllt oder gar übertroffen wurden, ist mir die beträchtliche dreistellige Summe, die mich das gekostet hat, egal.

Ist mein Budget strapaziert, und das ist es fast immer, reicht es nicht für den Restaurantbesuch. Aber ich kann mir ja auch keinen Giacometti leisten und mich trotzdem daran erfreuen. Vielleicht habe ich am Genuss teil, indem ich Rezepte lese oder mir die Berichte von FreundInnen, die im Restaurant waren, anhöre. Spitzenküche ist die Avantgarde der Kochkultur, und indem ich mich mit ihr auseinandersetze, arbeite ich an der Verfeinerung meiner Esskultur. Verfeinerung? Bewusstwerdung. Geschmacksschulung. Soll es möglichst elaboriert oder möglichst einfach sein? Idealerweise begreife ich das Elaborierte als eine Station auf dem Weg zum Einfachen; das Originelle führt zum Originären, das Püree zum Puren.

Der Sternekoch aus dem Gastroführer produziert Essenzen und redet vom Essenziellen und kocht auch nur mit Wasser. Aber er weiss, wie man die Speise zum Schwingen bringt beziehungsweise dazu, zu schmecken, wie sie selbst für den verwöhnten Gaumen des Gasts noch nie geschmeckt hat. Er weiss überdies, wie man sie ins Bild setzt, wie man die Details kombiniert.

Ein Zehntel der Wachzeit

Nur rund zwölf Prozent ihres Budgets geben Schweizer Haushalte für Essen und Trinken aus; zählt man Restaurantbesuche ab, sind es gar weniger als acht Prozent. Noch in den fünfziger Jahren machten die Ausgaben fürs Essen fast die Hälfte des verfügbaren Einkommens aus. Das lässt mehrere mögliche Schlüsse zu: Entweder verdienen wir heute wesentlich mehr Geld, oder andere Ausgaben wie Mieten und Krankenkassenprämien haben überproportional zugenommen, oder die Lebensmittel sind wesentlich billiger geworden.

Auch die Zeit, die für die Produktion der Lebensmittel und ihre Zubereitung aufgewendet werden muss, hat stark abgenommen. Die Zeit hingegen, die der Mensch mit Essen verbringt, verteilt sich zwar anders über den Tag als einst, dürfte aber immer noch rund ein Zehntel seiner Wachzeit betragen, nur unwesentlich abhängig davon, ob man sich geordnet zu den Hauptmahlzeiten zu Tisch setzt oder etwas Schnelles in sich hineinstopft und nebenher E-Mails checkt.

Wenn die Grossmutter einkaufen ging, sagte sie: «Ich gehe in den Konsum.» Konsum war mehr oder weniger gleichbedeutend mit der Beschaffung von Lebensmitteln, soweit diese nicht aus dem Garten, dem Stall oder den Einmachgläsern im Keller kamen. Das Verfügbare wurde achtsam behandelt, im Rahmen des Möglichen wurde auf Abwechslung geachtet, und vom Tier wurden auch die minderen Teile verwertet. Der Saisongedanke war kein Gedanke, denn es gab nicht viel anderes als Saisonales (ausser eben das Eingemachte); ebenso wenig existierte der Lokal/Regional-Gedanke, denn woher sollten die Esswaren kommen, wenn nicht aus der Nähe? Allenfalls aus dem Kolonialwarengestell im Konsum.

Die Rezepte waren bis vor wenigen Generationen ebenfalls einheimisch, wenn auch längst von der französischen Haute Cuisine beeinflusst. Butter? Nicht zu knapp. Rahm? À discrétion.

Rösti mit Symbolwert

Im bürgerlichen Rahmen gab es einen klaren Küchenkanon, eine Vorstellung davon, welche Speisen im Alltag angemessen und welche die edelsten sind; daran hielten sich im Prinzip alle quer durch die Gesellschaft – auch wenn für die ArbeiterInnen ein Chateaubriand ein Leben lang ausser Reichweite lag und in Bauernfamilien die Rösti zum Zmorge einen besonderen Symbolwert hatte.

Die Ordnung, die sich in Koch- und Esssitten spiegelte, war nicht gerecht, aber sie garantierte, dass es wenige Ausreisser nach oben und unten gab in unseren Breitengraden, kaum dekadente Ausschweifungen à la «Grande Bouffe» an der Spitze, nur wenig Mangelernährung an der Basis. Der Hunger war eines Tages in die Kolonien exportiert worden.

Erst mit zunehmender Mobilität und Zuwanderung kamen die Flausen in die hiesige Küche. Spaghetti! Pizza! Sukiyaki! Die Arbeitszeit wurde gleitend, die Pause schrumpfte. Die ehrwürdige Konserve in Glas oder Dose, in Salz oder Essig erhielt Gesellschaft durch Tiefkühlprodukte. Die Industrie entwickelte Zusatzstoffe und schuf Convenience-Produkte.

ErnährungsberaterInnen finden mittlerweile ein Auskommen, Fernsehköche erst recht. Sie trivialisieren oder demokratisieren – je nachdem –, was an der Spitze entwickelt wird, bis hin zu molekular, vakuumiert oder vegan, mit ein paar Jahren Verspätung. Gspässige Verben wie «einreduzieren» oder «aufmontieren» finden den Weg auf die heimische Couch, sogar an den heimischen Herd. Was dort aber wirklich an Gutem entstehen soll, das Magen und Seele nährt, braucht neben den guten Zutaten vor allem Zeit, Fantasie und Selbstvertrauen.