Einbürgerungswissen: Schweizer Geschichte für taufrische NewcomerInnen

Nr. 38 –

Staatskundekurse sind für Einbürgerungswillige in immer mehr Gemeinden obligatorisch. Welches Geschichtsbild wird dort vermittelt?

Zusammen mit neun TeilnehmerInnen aus drei Kontinenten, die sich alle um den roten Pass bemühen, sitze ich in einem Staatskundekurs im Kanton St. Gallen. Solche Kurse kosten in der Schweiz zwischen 200 und 300 Franken. Sie dienen der Vorbereitung zum ebenfalls kostenpflichtigen Staatskundetest, den bestehen muss, wer SchweizerIn werden will.

Im ersten von insgesamt sechs Modulen werden Geografie, Geschichte und Landessprachen der Schweiz behandelt. Nachdem sich die Lehrerin vorgestellt und ihren Namen in grossen Buchstaben an die Wandtafel geschrieben hat, verteilt sie Landkarten von der Schweiz. In Zweierteams versuchen wir, Kantone, Städte und Flüsse am richtigen Ort auf der Karte zu platzieren.

Wo ist 1848?

Erst in der letzten Viertelstunde des zweieinhalbstündigen Kurses kommt die Staatskundelehrerin auf die Schweizer Geschichte zu sprechen: «Weiss jemand, wie der Nationalheld der Schweiz heisst?» – «Wilhelm Tell», antwortet ein Mann aus dem Kosovo, und die Lehrerin beginnt, die Geschichte von einem «mutigen Mann aus Altdorf» zu erzählen, der sich vor 700 Jahren gegen die Herrschaft der Habsburger aufgelehnt und damit den Funken für die Gründung der Eidgenossenschaft gelegt habe. Es habe damals mit Sicherheit viele mutige Männer und Frauen gegeben, die für die Gründung der Schweiz kämpften, und darum sei dies nicht nur eine sehr schöne Geschichte, sondern «wichtig für die Schweizer Identität». Es handle sich zwar um eine Legende, und man wisse nicht, ob sich die Ereignisse genau so zugetragen hätten. Die Kursleiterin zeigt ein Bild von Wilhelm Tell in kurzer Hose und mit Armbrust und räumt dann ein, es könne auch sein, dass der bärtige Mann lange Hosen getragen habe, da es schon damals in der Schweiz «eher kalt gewesen war».

1291 als Gründungsjahr der Schweiz, die tapferen Eidgenossen, die gegen fremde Herrscher kämpften – die Legende eines Armbrustschützen als identitätsstiftendes Element? Fehlt nur noch das Märchen vom mutigen Winkelried, der die Lanzen der Habsburger packte, sich selbst damit aufspiesste und so den Eidgenossen eine Bresche öffnete, die ihnen zum Sieg verhalf. Tatsächlich wird in einer Übungsversion für den Staatskundetest im Kanton Aargau nach dem Helden der Schlacht von Sempach (1386) gefragt. In der Schweiz wird den Kantonen und meist sogar den einzelnen Gemeinden überlassen, die exakten Voraussetzungen festzulegen, die zur Erlangung des Bürgerrechts nötig sind.

Die Einkaufsmühen des Weltkriegs

Dabei haben antiquierte Geschichtsbilder offensichtlich ein langes Leben. Dass in einem Einbürgerungskurs kein kritischer Blick auf die Schweizer Geschichte geworfen wird, war zu erwarten. Doch dass Mythen und Legenden ins Zentrum gestellt werden und dem Jahr 1291 wie auch diversen Schlachten des Mittelalters mehr Bedeutung beigemessen wird als der Gründung der modernen Schweiz von 1848, das erstaunt.

Und was ist mit dem 20. Jahrhundert? Kein Wort über den Bergier-Bericht, der die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aufarbeitete. Diese Zeit werde in der Lektion über den Kanton St. Gallen thematisiert, erklärt mir die Lehrerin. Da der Kanton an der deutschen Grenze liege, sei er damals besonders vom Krieg betroffen gewesen. Ich denke an Paul Grüninger und frage, ob in diesem Zusammenhang die Flüchtlingspolitik diskutiert werde, etwa dass die Schweiz damals Tausende von Jüdinnen und Juden zurückwies. «Nein, nein, das geht zu weit», antwortet sie. Sie erzähle den KursteilnehmerInnen anderes. Zum Beispiel, dass man damals nicht so einfach nach Deutschland zum Einkaufen fahren konnte.

Eine Seite muss reichen

Einige Gemeinden benutzen in den Vorbereitungskursen zur Einbürgerung die 2005 entstandene Broschüre «Echo. Informationen zur Schweiz» des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz. Die Geschichte der Schweiz ist in dieser Broschüre auf einer Seite zusammengefasst. Die kurze Übersicht beginnt 1291 mit der Gründung der Eidgenossenschaft und endet 2002 mit dem UN-Beitritt der Schweiz.
 Dazwischen werden die Reformation, der Untergang der Alten Eidgenossenschaft, die Neugründung des Staatenbunds, der Sonderbundskrieg, die Gründung der heutigen Schweiz (1848), der Wandel der Schweiz vom Agrar- zum Industriestaat (1874–1914), der Erste und Zweite Weltkrieg, der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit und der wirtschaftliche Strukturwandel am Ende des 20. Jahrhunderts erwähnt. Ausserdem erfährt man, wann der Landestreik stattfand, in welchen Jahren die AHV und das Frauenstimmrecht eingeführt wurden und wann der Kanton Jura gegründet wurde.