«Die überflüssige Schweiz»: «Als Schweiz AG wird dieses Land auf Dauer nicht bestehen»

Nr. 40 –

In den nächsten drei Jahren stehen in der Schweiz richtungsweisende Entscheide an. Nun wird sich weisen, ob die Schweiz einen Weg aus der Negativspirale von Marktradikalismus und Fremdenfeindlichkeit findet. Die progressive Linke muss bereit sein, Führung zu beanspruchen. Ein Vorabdruck aus der Streitschrift «Die überflüssige Schweiz» des linken Thinktanks Denknetz.

Die Schweiz ist auf dem besten Weg, sich überflüssig zu machen. Die neoliberalen Businesseliten degradieren das Land zu einem Standortanhängsel der Grosskonzerne und der Banken. Ihr wichtigstes Ziel sind tiefe Steuern für Konzerne und Superreiche. Die Nationalisten bringen Menschen unterschiedlicher Herkunft gegeneinander auf, übergehen grundlegende Freiheitsrechte und wollen die Schweiz im europäischen Umfeld isolieren. Sowohl die Neoliberalen als auch die nationale Rechte beziehen ihre Vorstellungen aus dem vorletzten Jahrhundert: Der Neoliberalismus verklärt den Laissez-faire-Manchester-Kapitalismus, die Nationalisten eine bäuerlich-kleinbürgerliche Schweiz-Idylle. Und die SVP versucht, beides unter einen Hut zu bringen.

Mit dem Standortdumping haben die neoliberalen Eliten nach Kapital gerufen, doch es sind auch Menschen gekommen. Allerdings sind einige unserer Infrastrukturen der Zuwanderung der letzten Jahre nur beschränkt gewachsen. Überdies machen sich die Spekulanten die Nachfrage nach Wohnraum zunutze und treiben die Immobilienpreise in die Höhe. Und windige Unternehmen betreiben Lohndumping. Solche Entwicklungen machen sich die Nationalisten zunutze. Sie spielen die fremdenfeindliche Karte und wollen damit einer antisozialen und diskriminierenden Politik zum Durchbruch verhelfen.

Ein Staat, der sich zwischen Marktradikalismus und Fremdenfeindlichkeit zerreiben lässt, wird unnütz und entbehrlich. Statt den Reichtum, der sich in den spekulativen Finanzmärkten angehäuft hat, wieder in gesellschaftlich sinnvolle Bereiche zu lenken, lässt dieser Staat zu, dass sich die soziale Ungleichheit und die Krisenanfälligkeit der Wirtschaft verschärfen. Statt die aktuellen Probleme mit konkreten, demokratisch legitimierten Massnahmen anzugehen, lässt dieser Staat zu, dass die Menschen gegeneinander aufgebracht werden.

Vorwärts statt rückwärts

In den nächsten drei Jahren stehen in der Schweiz richtungsweisende Entscheide an. Sie betreffen die Stellung der Schweiz in Europa und in der Welt, die Migrations- und die Steuerpolitik. Das knappe Resultat zur «Kontingentierungsinitiative» der SVP am 9. Februar 2014 hat dazu den Auftakt gebildet.

Auf bürgerlicher Seite dominieren zwei Orientierungen. Die erste, die marktradikale oder neoliberale Orientierung, behauptet, nur das freie Spiel von Angebot und Nachfrage führe zu einer optimalen Verteilung der Ressourcen, zu grösstmöglicher Effizienz und Freiheit. Staatliche Eingriffe und Regeln seien auf ein Mindestmass zu begrenzen. Die Politik habe vor allem für optimale Standortbedingungen im Interesse der grossen Konzerne und Finanzhäuser zu sorgen.

Die zweite Orientierung gründet auf der Abwehr des Fremden und der Armen. Praktisch sämtliche Schwierigkeiten werden auf drei Probleme zurückgeführt: auf die Überfremdung durch Leute mit anderer Religion, Kultur, Mentalität; auf die Schmarotzerhaltung der Armen, die unter Generalverdacht stehen, die Einrichtungen der sozialen Sicherheit zu missbrauchen; schliesslich auf die Laschheit der dominanten Politik, sich diesen Problemen entgegenzustellen.

Beide Orientierungen lenken von den zentralen Herausforderungen ab: mit der zunehmend ungleichen Verteilung von Reichtum und Macht, die sich fortwährend auch in kriegerischen Konflikten entlädt; mit der wachsenden Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Weltökonomie; mit der Bedrohung der natürlichen Lebensräume und mit der Krise, in die wir im Bereich der Sorgearbeit geraten. Mit ihrer Rückwärtsgewandtheit dienen die bürgerlichen Orientierungsmuster der Machterhaltung der Businesseliten, der globalen Konzerne und Finanzinstitute sowie ihrer gesellschaftlichen und politischen Entourage. Entsprechend werden beide Orientierungen oftmals kombiniert. Sowohl die SVP als auch die FDP (und Teile der andern bürgerlichen Parteien) huldigen einem marktradikalen, antistaatlichen Fundamentalismus.

Zwischen Hammer und Amboss

Die Big-Business-Schweiz erpresst die Bevölkerung seit Jahren mit einer immer wiederkehrenden Drohung. Bei jeder Auseinandersetzung, bei der ihre Interessen auf dem Spiel stehen, künden Unternehmen und Ultrareiche an, die Schweiz umgehend zu verlassen. Auf diese Weise wird eine Politik des Standortdumpings durchgesetzt: rekordtiefe Steuern für Unternehmen und Reiche, wenig regulierte Arbeitsmärkte, lange Arbeitszeiten. Es ist paradox: Einerseits wird von den Businesseliten das Bild eines «Erfolgsmodells Schweiz» zelebriert. Andererseits scheint dieses Modell derart labil, dass ihm der Untergang droht, wenn nur schon eine kleine politische Intervention zugunsten einer gerechteren Verteilung des Wohlstands angedeutet wird.

Die Wirksamkeit dieser Erpressung spiegelt sich in der Art, wie politische Vorstösse für mehr Verteilungsgerechtigkeit abserviert werden. Das Muster ist immer dasselbe: In den ersten Meinungsumfragen erzielen entsprechende Vorlagen jeweils satte Ja-Mehrheiten, die anschliessend durch eine teure und aggressive Abstimmungskampagne gedreht werden. Zum Beispiel die Steuergerechtigkeitsinitiative der SP: Eine Wählerumfrage ergab ein halbes Jahr vor der Abstimmung eine Zustimmung von 58 Prozent. Unveröffentlichte frühere Umfragen von Economiesuisse hatten sogar noch höhere Zustimmungsraten ausgewiesen. Doch schliesslich sagten im November 2010 nur noch 42 Prozent der Stimmenden Ja. Dazwischen lag eine millionenschwere Abstimmungskampagne mit der Drohung, die Initiative führe zur Abwanderung der Ultrareichen und zu Arbeitsplatzverlusten. Geklappt hat dies auch bei der 1:12-Initiative.

Hinter alledem steckt auch ein verzerrtes Bild der «Wirtschaft», das von den Mainstream-Medien täglich gepflegt wird. Die «Wirtschaft» wird mit den Führungsetagen der Banken und der Grosskonzerne gleichgesetzt.

Dieses Bild hat sich leider bis weit in die Linke festgesetzt. Die Beschäftigten und ihre Organisationen werden beim Stichwort «Wirtschaft» nie mitgedacht, obwohl sie die zentrale ökonomische Substanz ausmachen. Die KMU – die kleinen und mittleren Betriebe – werden zwar allenthalben zur Säule der Wirtschaft stilisiert. Zu sagen aber haben sie nicht viel. Die entscheidende Macht liegt bei den Konzerneliten und den grossen Finanzinstituten.

Gerade diese Eliten aber haben mit der Schweiz nicht mehr viel gemein. Dies spiegelt sich in den Topetagen der «Schweizer» Grosskonzerne, in denen Manager aus andern Ländern oftmals in der Mehrheit sind. Es spiegelt sich ebenso in den Besitzverhältnissen: NZZ-Wirtschaftsredaktor Hansueli Schöchli schätzt, dass «zwei Drittel der in der Schweiz börsenkotierten Aktien (…) in ausländischer Hand sind». Grosse Teile des Rohstoffhandels, der in den letzten zehn Jahren in der Schweiz dank des Standortdumpings einen nie da gewesenen Boom erlebte, sind derart stark in der russischen Oligarchie angesiedelt, dass Sanktionen gegen Russland im Gefolge der Ukrainekrise «die Schweiz hart treffen« würden («Tages-Anzeiger»).

Schon immer war bürgerliche Politik eine Politik im Interesse der Unternehmen. Bis in die achtziger Jahre wurde sie noch von demokratie- und staatspolitischen Ambitionen mitgeprägt. Aber mit der neoliberalen Revolution wurden solche Ambitionen sukzessive abgestreift. Ihre gesellschaftspolitischen Perspektiven sind weitgehend zerfallen, und in ihrem Sog schwindet auch der gesellschaftspolitische Gestaltungswille der bürgerlichen Grossparteien.

Hier kommt die SVP ins Spiel. Mit einem Amalgam aus Jodeln, Mundart, Schwingerschweiss, direkter Demokratie, Landluft, Schlitzohrigkeit und Emmental kreiert sie die Vorstellung eines «Volkes», das sich gegen die Zerstörung von aussen wappnen muss. Sie schafft es, die Geschichte einer binnenorientierten, «ländlich-agrarischen Schweiz» mit einer grenzenlosen, transnationalen, alle Bereiche des Lebens durchdringenden Wirtschaftsordnung zu verbinden – wie wenn es zwischen diesen Weltbildern keine offensichtlichen Widersprüche gäbe. Genau gleich wie die Neoliberalen verklärt sie den Weltmarkt zu einer Naturgewalt. Internationale Wirtschaftskrisen brechen über uns herein wie einstmals die tosenden Unwetter im Emmental, die harmlose Dorfbäche in reissende Gewässer verwandelten und den gotthelfschen Bauern in seiner Existenz bedrohten. Das Handeln von Finanzmarktakteuren etwa, die im Zusammenspiel mit neoliberalen Regierungen gegen Staaten spekulierten und den ganzen Euroraum in Bedrängnis brachten, wird vollständig ausgeblendet.

In scheinbar paradoxer Weise wirken beide Strömungen darauf hin, die Schweiz überflüssig zu machen. Die Businesseliten sind der Hammer, der Amboss ist die SVP, und die Bevölkerung ist dazwischen – jedenfalls solange sie sich nicht aus dieser Lage zu befreien vermag.

Die Zäsur vom Dezember 1992

Das Abstimmungsergebnis vom 9. Februar 2014 macht den Konflikt zwischen Abschottung und Offenheit erneut zum dominierenden Konflikt der nächsten Jahre. Diese Auseinandersetzung prägt die Schweizer Politik nun schon seit einem guten Vierteljahrhundert.

Im Juni 1987 lancierte der Bundesrat ein Nationales Forschungsprogramm (NFP 28) mit dem Titel «Die Schweiz in einer sich verändernden Welt». Die entsprechende Expertengruppe gab bei Professor Silvio Borner von der Universität Basel eine Studie in Auftrag. Sie wurde anschliessend in Buchform unter dem Titel «Schweiz AG» veröffentlicht und hat massgebend zur Artikulation der strategischen Orientierung der Schweizer Eliten beigetragen. Der Titel ist eine treffende Eigenbeschreibung der Grundhaltung der neoliberalen Kräfte: Sie betrachten die Schweiz wie eine Firma – wie ihre Firma.

Die Autoren kommen zu folgenden Schlüssen: Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz AG lasse sich auf zunehmend global funktionierenden Märkten nur durch verstärkte internationale Integration auf wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Ebene erhalten. Zentral sei dabei der Integrationsprozess in Europa. Einer solchen Integration stünden allerdings die direktdemokratischen Mechanismen entgegen. Langfristig komme man deshalb nicht darum herum, vom Prinzip der direkten Demokratie abzurücken. Allerdings werde man solche Schritte erst durchsetzen können, wenn die «Kosten des Abseitsstehens entscheidend durchzuschlagen beginnen». Im Sinne einer Second-best-Strategie sei die Wirtschaftspolitik deshalb vorderhand umso konsequenter auf die Steigerung der Attraktivität des Wirtschaftsstandortes auszurichten. Der Entwicklung des Finanzplatzes und der Steuerbegünstigung der Unternehmen müsse folglich hohe Priorität eingeräumt werden.

Am 6. Dezember 1992 kam es genau zu jener direktdemokratischen Zäsur, welche die Autoren befürchtet hatten. Die Stimmberechtigten verwarfen mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Der EWR entsprach (und entspricht) einer umfassend konzipierten Freihandelszone, deren Kern aus den vier Freiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs besteht. Er beinhaltet einen guten Teil dessen, was die Schweiz einige Jahre später in Form der bilateralen Verträge mit der EU ebenfalls vereinbarte. Das Abstimmungsergebnis vom Dezember 1992 war ein überwältigender Sieg für die SVP, die eine massive Nein-Kampagne geführt hatte und deren politischer Aufstieg damit lanciert wurde.

Die Folgen des Nichtbeitritts waren erheblich. Als einziges OECD-Land verzeichnete die Schweiz in den 1990er-Jahren ein Nullwachstum des realen Bruttoinlandsozialprodukts pro Kopf. Erst 2003 konnte sie ein Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation hinter sich lassen. Zwar wäre es falsch, diese Stagnation einzig dem EWR-Nein anzulasten. Eine wichtige Rolle spielte damals auch ein spekulativ überhitzter Immobilienmarkt, der just zu Beginn der neunziger Jahre kollabierte. Allerdings befinden wir uns auch heute in einer ähnlichen Konstellation: Die Immobilienpreise sind stark überhöht, und gerade eine Abschottung von der EU könnte die Nachfrage einbrechen lassen.

Die Stagnation der neunziger Jahre hatte erhebliche Konsequenzen für Hunderttausende von BewohnerInnen der Schweiz. Die Arbeitslosenquote lag bis zu Beginn der neunziger Jahre in der Regel unter 1 Prozent. Bis 1997 stieg sie auf einen historischen Höchststand von 5,2 Prozent. Ebenso in die Höhe schnellten die Zahlen der IV-RentenempfängerInnen, weil der Druck in der Arbeitswelt beträchtlich zunahm. Schliesslich nahm die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen ebenfalls beträchtlich zu.

Der Siegeszug der Business-Schweiz

Die Schweizer Eliten reagierten auf das Abstimmungsergebnis von 1992 mit einer Doppelstrategie. Sie nahmen mit der EU Verhandlungen auf, um die Verhältnisse auf bilateralem Weg zu regeln. Und sie intensivierten ihre Bemühungen für ein aggressives Standortdumping. 1998 wurden im Zuge der Unternehmenssteuerreform I die bundesweiten Unternehmenssteuern erheblich gesenkt und der Spielraum für die Kantone markant ausgeweitet: Die Summe der in der Schweiz deklarierten Gewinne stieg von 99,4 Milliarden Franken (1998) auf 140,5 Milliarden im Jahr 2000.

Nach fünf Verhandlungsjahren konnten sich die EU und die Schweiz schliesslich am 21. Juni 1999 auf ein Set von sieben Verträgen einigen, die sogenannten Bilateralen Verträge I. Darunter befand sich als Herzstück das Übereinkommen zur Personenfreizügigkeit. Nachdem diese Abkommen am 21. Mai 2000 von den Stimmberechtigten mit 67,2 Prozent Ja-Stimmen angenommen worden waren, traten sie am 1. Juni 2002 in Kraft. Die EU-Anbindung wurde 2005 durch die Bilateralen Verträge II (Schengen-Vertrag zu den offenen Grenzen und Dublin-Vertrag zur Koordination der Asylpolitik) und durch die Akzeptanz der EU-Osterweiterung noch verstärkt.

Mit den bilateralen Verträgen und dem offensiven Standortdumping hatte sich die Business-Schweiz auf der ganzen Linie durch gesetzt. Für einige Jahre trat der Gegensatz zwischen dem Nationalkonservatismus der SVP und dem Standortdumping der Businesseliten in den Hintergrund. Die SVP mässigte ihre Anti-Europa-Opposition, im Gegenzug mutierten wichtige Führer der Businesswelt zu SVP-Anhängern (wie der UBS-Chef Marcel Ospel). War Christoph Blocher 1991 wegen seines Anti-EWR-Engagements von der damaligen Schweizerischen Bankgesellschaft (heute Teil der UBS) als Verwaltungsrat nicht mehr zur Wiederwahl nominiert worden, so hatte sich zwölf Jahre später das Blatt gewendet: Blocher wurde – auch dank der Lobbyarbeit von Ospel – am 10. Dezember 2003 in den Bundesrat gewählt.

Die neu vereinten bürgerlichen Kräfte versuchten anschliessend, den Sozialstaat beträchtlich zurückzustutzen, scheiterten jedoch in einer wegweisenden Abstimmung im Mai 2004, als die StimmbürgerInnen eine AHV-Abbauvorlage und eine Steuerabbauvorlage gegen die geschlossene Front der bürgerlichen Parteien und des Bundesrats bachab schickten.

Die Kombination von Standortdumping und bilateralen Verträgen führte ab 2003 zu einer Boomphase der Schweizer Wirtschaft, die – mit Ausnahme des Einbruchs in der Finanzkrise 2009 – bis heute anhält.

Dieser Boom verläuft allerdings asymmetrisch: Er nützt in erster Linie den Kapitaleignern, während sich die Lebenslage der grossen Bevölkerungsmehrheit kaum entspannt hat. Der Anteil der Armutsbetroffenen blieb weitgehend konstant, und die Zahl der Menschen, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, hat erheblich zugenommen. Besonders ins Auge sticht demgegenüber die gewaltige Zunahme der hierzulande deklarierten Profite: Von 106 Milliarden Franken (2002) stiegen die Unternehmensgewinne zunächst noch verhalten auf 119,7 Milliarden (2004), um sich dann innerhalb von nur vier Jahren auf 280,3 Milliarden und im Jahr 2010 auf 322 Milliarden Franken hochzuschrauben.

Mit diesem Kapitalsog lässt sich ein beträchtlicher Teil der Arbeitsmigration der letzten Jahre erklären. Die Konferenz der kantonalen Volkswirtschaftsdirektoren erfragt bei den Kantonen seit 2005, wie viele Firmen dank aktivem Standortmarketing neu angesiedelt wurden. Ergebnis: Im Zeitraum von 2005 bis 2013 sind dies 3715 Firmen. Wenige Tage nach dem Abstimmungsgang vom 9. Februar 2014 liess sich der Thinktank der Grosskonzerne, Avenir Suisse, mit ungewohnt (selbst-)kritischen Tönen vernehmen. Üblicherweise stramm neoliberal argumentierend, fordert Avenir Suisse einen «Verzicht auf gezielte Steuervergünstigungen für zuziehende Firmen». WOZ-Redaktor Yves Wegelin stützt die These und rechnet nach, dass von 2005 bis 2012 – inklusive des damit verbundenen Familiennachzugs – jährlich rund 40 000 Menschen aufgrund des neu in der Schweiz aktiven ausländischen Kapitals immigriert sind (WOZ Nr. 11/14 ).

Die Annahme der SVP-«Kontingentierungsinitiative» hat – sofern sie in kommenden Abstimmungen nicht widerrufen wird – erhebliche Konsequenzen. Migrationspolitisch ist sie ein beträchtlicher Rückschritt für all jene, die aus EU-Ländern in die Schweiz zuwandern. Gesellschaftspolitisch fördert sie ein Klima des Misstrauens und der Distanz zwischen den Menschen unterschiedlicher Nationalität. In der Arbeitswelt vergrössert sich die Gruppe von abhängig Beschäftigten, die weitgehend rechtlos ist. Im Hinblick auf die Beziehungen zur EU schliesslich führt die Festschreibung der Kontingentierung mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Kündigung der bilateralen Verträge.

Die EU hat stets klargemacht, dass die bilateralen Verträge mit der Schweiz nur als gesamtes Vertragswerk von Bestand sind, und hat dies durch entsprechende Klauseln in diesen Verträgen abgesichert. Fällt die Personenfreizügigkeit, fallen auch alle andern Verträge. Damit droht der Schweiz, inmitten von Europa gelegen, von diesem Europa abgeschnitten zu werden. Der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz ist die EU: 56 Prozent aller Exporte gehen in die EU, 75 Prozent aller Importe kommen aus der EU. Die Konsequenzen könnten sich als weitaus schwerwiegender erweisen als diejenigen, die aus dem Nein zum EWR von 1992 erwuchsen.

Bei der Weltausstellung in Sevilla zierte 1992 das Motto «La Suisse n’existe pas» des Künstlers Ben Vautier den offiziellen Pavillon der Schweiz. Die Provokation funktionierte, und sie funktioniert bis heute. Chefredaktor Roger Köppel bezeichnete das Motto in einem «Weltwoche»-Editorial vom Dezember 2012 als «Selbstmord-Slogan» des Schweizer Mainstreams, der 1992 mit der Befürwortung des EWR die Schweiz zur Selbstauflösung habe führen wollen, was nur dank der SVP habe verhindert werden können. Köppel führt hier eine ziemlich spitze Zunge angesichts der Tatsache, dass auf das EWR-Nein eine zehnjährige Schwächeperiode der Schweizer Wirtschaft folgte und dass mit den Bilateralen Verträgen vieles aus dem EWR schliesslich von der Schweiz doch noch nachvollzogen wurde. Doch erstaunlich genug: Der wirtschaftliche Kriechgang in den neunziger Jahren wurde in keinem Moment der SVP angelastet. Im Gegenteil begann mit dem EWR-Nein ihr eigentlicher Aufstieg. Bei den Nationalratswahlen steigerte die SVP ihren Wähleranteil von 11,9 Prozent im Jahr 1991 auf 28,9 Prozent im Jahr 2007. Der Zuwachs wurde erst 2011 gestoppt (26,6 Prozent).

Gegenwärtig gibt es einige Stimmen, die darauf hoffen, die Folgen der SVP-Kontingentierungsinitiative würden der SVP schaden. Sie seien gewarnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Abschottungsentscheid auch diesmal der SVP nützt, ist leider sehr gross. Die SVP wird alles daran setzen, sämtliche negativen Folgen des Entscheids dem Bundesrat, der bürgerlichen «Mitte» und der Linken in die Schuhe zu schieben.

Ein Neuanfang?

Mit der Annahme der «Kontingentierungsinitiative» könnte sich ein ungeordneter Niedergang der Schweiz anbahnen. Doch auch das Gegenteil ist möglich: Der 9. Februar mobilisiert jene Kräfte, die sich weder vom Standortdumping noch von fremdenfeindlichen Tendenzen vereinnahmen lassen wollen. Die breite Beteiligung von 12 000 Personen an der Kundgebung für eine offene und solidarische Schweiz vom 1. März 2014, für welche ausschliesslich via Social Media aufgerufen wurde, ist dafür ein Hoffnungszeichen. Ein Neuanfang muss von jenen Kräften getragen werden, die die gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch, aktiv und lösungsorientiert gestalten wollen, die nach global tragfähigen Lösungen suchen und die sich nicht mit Varianten des Nationalegoismus begnügen.

Deshalb darf die Linke sich jetzt auch auf keinen Fall dem bürgerlichen Mainstream anpassen in der falschen Annahme, so könne die SVP besser zurückgedrängt werden. Dies würde dazu führen, dass sie von der neoliberalen Politik des Standortdumpings und der Schweiz AG absorbiert wird. Doch gerade als Schweiz AG, als reines Businessprojekt, wird dieses Land auf Dauer nicht bestehen können.

Ein Land, das auf Standortmarketing und auf den Interessen von einem Dutzend Grosskonzernen baut, baut auf Sand.

Gekürzte Fassung des ersten Kapitels aus: «Die überflüssige Schweiz. Eine Denknetz-Streitschrift». Edition 8. Zürich 2014. 
127 Seiten. 14 Franken.

Zehn Jahre Denknetz : «In den Wandelhallen taktieren reicht nicht»

«Economiesuisse behauptet, sie mache aus der Schweiz mit dem Steuerdumping ein ‹Erfolgsmodell›. Und die SVP, sie rette unser Land vor fremden Vögten. In Wirklichkeit machen beide die Schweiz überflüssig.» So bringt es Beat Ringger auf den Punkt, der Geschäftsführer des sozialkritischen Thinktanks Denknetz, der zur Eröffnung seines zehnjährigen Jubiläums mit «Die überflüssige Schweiz» eine überaus denkwürdige Streitschrift veröffentlicht hat.

«Nach dem Schock vom 9. Februar reicht es nun aber nicht», so Ringger, «in den Wandelhallen des Bundeshauses zu taktieren. Gegen die Schweizabschaffer muss die Zivilgesellschaft, müssen Junge und Alte, Pflegefachleute und BauarbeiterInnen, Gesellschaftsliberale und GewerkschafterInnen, fortschrittliche Unternehmer und Kulturschaffende mobilisiert werden. Das ist eine zentrale Botschaft des Buchs ‹Die überflüssige Schweiz›.»

Im ersten Kapitel, das auf diesen Seiten gekürzt zu lesen ist, skizziert das AutorInnenkollektiv die Entwicklung eines Landes, das sich in eine «Schweiz AG» zu verwandeln droht. In der «Denknetz-Reformagenda» werden Vorschläge unterbreitet, wie das Land einen zeitgemässen Richtungswechsel vornehmen kann. Zwei weitere Kapitel setzen sich mit den Folgen der SVP-«Masseneinwanderungsinitiative» und der Ecopop-Initiative auseinander. Im weiteren sind «Zwölf Thesen zu Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und Wohlstand» oder etwa eine vertiefte Analyse der seit 2007 andauernden Krise zu lesen.

Das Denknetz mit derzeit rund 900 Einzel- und einer Reihe von Kollektivmitgliedern versteht sich als unabhängige Plattform, die dazu beiträgt, «dass Emanzipation, Befreiung und soziale Gerechtigkeit eine Renaissance erleben und in Einklang mit den Geboten der Nachhaltigkeit gebracht werden». Es baut Diskursnetze auf und führt Leute aus Forschung und Lehre mit Akteur-Innen aus nichtstaatlichen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien, Bewegungen und der gesellschaftlichen Praxis zusammen. Kernthemen sind Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik, unter Einbezug von Bildungs-, Umwelt- oder Migrationspolitik – stets unter Berücksichtigung von Care-, Gender- und globalen Aspekten.

Zurzeit sind rund achtzig Personen in Arbeits- und Fachgruppen tätig. Präsidentin ist die Soziologin Ruth Gurny. Weiter im Vorstand sind Ruth Daellenbach, Dore Heim, Katharina Prelicz-Huber, Andreas Rieger, Hans Schäppi, Walter Schöni, Jean-François Steiert und Bernhard Walpen. Holger Schatz ist wissenschaftlicher Redaktor, Iris Bischel Assistentin der Geschäftsleitung.

Seit 2004 publiziert das Denknetz Sachbücher zu verschiedenen Themen. Jährlich im Oktober erscheint zudem das Denknetz-Jahrbuch mit rund zwanzig Beiträgen zu einem Schwerpunkt, zu weiteren Tätigkeiten des Denknetzes sowie mit einem Bericht zur Entwicklung der (Un-)Gleichheit in der Schweiz. Das Jahrbuch 2014 («Kritik des kritischen Denkens»), das Ende Oktober erscheint, setzt sich mit den Bedingungen des gesellschaftlichen und politischen Denkens auseinander.

Anlässlich des Jubiläums veranstaltet das Denknetz eine Reihe von Veranstaltungen. Diesen Freitag, 3. Oktober, startet an der Universität Zürich in Kooperation mit der StudentInnenorganisation kritische Politik (Kripo) die Reihe «Fundamente» zum Thema «Marx, Keynes und die aktuelle Krise des Kapitalismus».

Am 29. November feiert das Denknetz seinen Geburtstag mit einem grossen Fest im Zürcher Volkshaus, unter anderem mit dem britischen Politologen Colin Crouch, der Frauenband Les Reines Prochaines und den WortkünstlerInnen von Bern ist überall.

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