David Cronenberg als Literat: In all seiner perversen Pracht

Nr. 44 –

Es krabbelt in der Brust: Der kanadische Filmregisseur David Cronenberg hat einen ersten Roman geschrieben. Schönster intellektueller Trash.

Die Frau sitzt auf dem Schragen, die Brüste entblösst, und blickt hoch zu uns. Es muss das Vorgespräch zu einem chirurgischen Eingriff sein, auch wenn die Umgebung so gar nicht nach einem keimfreien Operationsraum aussieht. Mehr nach einer Abstellkammer irgendwo in einem Keller: isolierte Leitungsrohre vor weissem Sichtbackstein, und da hinten in der Ecke, ist das ein Spaten? Subjektive Kamera, also sind wir der Doktor, der aus dem Off zu dieser Patientin spricht, in der Grabesstimme von David Cronenberg: «Ich nehme Ihnen gerne die Brust ab, es ist bloss …» Die Stimme zögert. «Ich bin mir nicht sicher, wie ich mit den Insekten umgehen soll.» Er meint die Insekten, die sie in ihrer linken Brust surren hört.

Gar nicht vegetarisch

Ein ausgewachsener Film ist das nicht, nur ein kurzer Trailer zu einem Roman, also einer dieser Werbespots, wie sie neuerdings auch im Literaturbetrieb immer häufiger eingesetzt werden in der Hoffnung auf virale Streuwirkung im Netz. Nun müsste man sich ja nicht so ausführlich mit solchem Beiwerk befassen, aber im Fall des Filmregisseurs David Cronenberg liegt die Sache etwas anders. Denn der Roman, den er mit diesem bescheidenen Trailer bewirbt, ist sein eigener, sein erster. «Verzehrt» heisst er, und in seinen Motiven liest sich dieses Debüt wie die Summe von Cronenbergs filmischem Schaffen.

Im Kino hat sich der Doyen des Body Horror ja längst von den Entgrenzungsfantasien seiner früheren Filme verabschiedet, die obsessiv um die Vereinigung oder genauer: den Koitus von Fleisch und Technologie kreisten. Da waren der Medienjunkie, der sich mit jeder Faser seines Körpers einem ominösen TV-Signal hingibt («Videodrome», 1983), der Forscher, der zur monströsen Fliege mutiert («The Fly», 1986), oder die Spielsüchtigen, die sich ihre Konsolen wie externe Nervenstränge direkt ins Rückenmark einstöpseln («eXistenZ», 1999). In den letzten Jahren hat sich Cronenbergs filmischer Fetischismus von der Lust am grotesken Organismus zum gesprochenen Wort hin verschoben. Aber wer in den dialoglastigen neueren Filmen den Organtechnologen von einst vermisst, findet ihn jetzt im Roman wieder, in seiner ganzen perversen Pracht.

Als erzählerisches Gravitationsfeld wirkt hier ein marxistischer französischer Philosoph, der in gewissen Zügen unverkennbar Louis Althusser nachempfunden ist. Er trägt den wunderlichen Namen Aristide Arosteguy, und wie Althusser hat Arosteguy angeblich seine Frau, ebenfalls Philosophin, ermordet. Man könnte von einem Gnadentod ausgehen, von einem letzten Akt der Liebe für die krebskranke Gattin – wären da nicht die Fotos der säuberlich zerstückelten Leiche, die darauf hindeuten, dass der Mörder die Frau womöglich aufgegessen hat.

Geil auf Geräte

Hat der Denker seine Lehre vom Konsumismus also zuletzt allzu wörtlich genommen, indem er sich die sterblichen Überreste seiner Liebsten einverleibte? War die Inszenierung des Mords das letzte philosophische Statement dieses schillernden Paars, ein blutrünstiges Gleichnis von den Schrecken des Kapitalismus, ein Sinnbild des «unersättlichen, alles verschlingenden konsumistischen Ethos des Westens»? Arosteguy kann man nicht dazu befragen: Der Professor ist verschwunden, die Leiche seiner Frau ebenfalls, und die Fantasie der Boulevardmedien dreht im roten Bereich.

Hier schalten sich Nathan und Naomi ein: noch ein Liebespaar, aber eines, das seinen physischen Kontakt weitgehend durch den Austausch über digitale Interfaces ersetzt. Sie ist Journalistin, er Fotograf, und für Sex treffen sie sich, wenn überhaupt, nur unterwegs, wenn sie sich gerade auf demselben Flughafen kreuzen. Ansonsten gilt: Skype ist das Kondom der digitalen Nomaden. Was Naomi und Nathan verbindet? Beide sind echte Geeks, also geil auf technische Geräte. Das ist beim Lesen etwas lästig, weil der Autor es für nötig hält, die Obsession seiner beiden Hauptfiguren recht penetrant mit Belichtungswerten und anderen technischen Daten zu untermauern. (Das wiederum hat Methode, denn Cronenberg folgt damit nur der Ästhetik seines Philosophenpaars: Im Roman postulieren die Arosteguys die Bedienungsanleitung als «einzig wahre Literatur der modernen Zeit».)

Während Nathan einen dubiosen ungarischen Arzt bei seinen illegalen Operationen fotografiert, spürt Naomi dem verschwundenen Philosophen nach. Über Umwege landen letztlich beide im Dunstkreis der Arosteguys – wenn auch auf verschiedenen Kontinenten. Der Weg dorthin führt durch ein Kabinett von Perversionen und seltenen Krankheiten. Der kranke Körper aber figuriert bei Cronenberg nicht einfach als defizitäre Hülle, sondern immer auch als verheissungsvolle Maschine, die utopische Formen des Lustgewinns verspricht. Das ist die queere, materialistische Logik, der auch der Roman folgt.

Im Fleisch liegt die Wahrheit: Es ist, als habe David Cronenberg hier sämtliche grotesken Fantasien und den ganzen körperlichen Überschuss, den er sich in seinen so disziplinierten neueren Filmen verkniffen hat, in ein Buch gepackt. Man kommt sich beim Lesen vor wie in einem Themenpark zum Cronenberg-Universum, inspiriert von Georges Bataille. Und manches in dem Roman liest sich wie ein poetologischer Kommentar zu Cronenbergs filmischem Werk. Allerdings hätte man sich gewünscht, der Verlag hätte in diesem Fall auch einen Übersetzer mit filmischem Basiswissen beigezogen. Jean-Luc Godards «À Bout de Souffle» heisst nun mal «Ausser Atem» auf Deutsch (nicht «Atemlos», wie Tobias Schnettler den englischen Titel «Out of Breath» wörtlich übersetzt). Und einmal ist allen Ernstes von New-Wave-Filmen die Rede, wenn die Nouvelle Vague gemeint ist.

Das Surren der Insekten

Der Fall Arosteguy übrigens scheint nach der Hälfte des Buchs bereits gelöst zu sein. Aber fortan schraubt sich der Roman in ein Wahnsystem hinein, in dem nordkoreanische Hörgeräte mit unheimlichen Zusatzfunktionen eine Rolle spielen. Da geht es dann um die Psychose einer Philosophin, die überzeugt ist, dass sich – siehe Trailer – Insekten in ihrer Brust eingenistet hätten. Um dem imaginären Gekrabbel ein Ende zu machen, will sie sich die Brust amputieren lassen, und da denkt man dann nicht mehr nur an Althusser, sondern auch ein bisschen an Angelina Jolie.

Am Ende ergeht es Cronenberg wie dem Chirurgen, dem er im Trailer die Stimme leiht: Er scheint dann selber nicht so recht zu wissen, was er mit den Insekten im Roman anfangen soll. Aber auch wenn der Plot zuletzt etwas orientierungslos implodiert: Aufregender (und abgefahrener) als Cronenbergs jüngster Film «Maps to the Stars» ist dieses späte literarische Debüt allemal.

David Cronenberg: Verzehrt. Aus dem Englischen von Tobias Schnettler. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2014. 400 Seiten. Fr. 33.90