Theater: Demokratie ist nicht besser

Nr. 39 –

Eine gute Stunde ist vorbei, da verlässt das Publikum in Scharen den Saal. Skandal? Nein, die kommen wieder. Sie gehen nur kurz ins Foyer, weil ein selbst ernannter Demokrat der Mässigung uns alle vor die Wahl gestellt hat: Autorität oder Plenum. Wer sich gerne im Frontalunterricht die Enthüllungen des Dr. Stockmann (Markus Scheumann) anhört, darf ruhig sitzen bleiben; wer dagegen die demokratischen Werte hochhält, soll draussen im Foyer erst mal darüber abstimmen, wer überhaupt die Sitzung leiten darf.

Gemeindeversammlung im Zürcher Schauspielhaus: Da greifen die politischen Verstrickungen auf uns über, und die Zersplitterung des Publikums dient wieder nur den Mächtigen. Zuletzt steht Henrik Ibsens tragischer Held, der Kurarzt Stockmann, allein da: erst noch gefeiert als Volksfreund, weil er die Stadt vor dem Gift in ihrem heilenden Wasser warnen will, jetzt als Volksfeind desavouiert. Unter der Regie von Stefan Pucher und in der Neubearbeitung von Dietmar Dath wird daraus ein fulminanter Thriller über die Demokratie in der Zeit von Globalisierung und E-Governance: smart, schnell, bitterböse.

Aus dem Zeitungsmann Hovstad macht Dath eine Bloggerin, die statt dem «Volksboten» eine offene Plattform namens «DEMOnline» betreibt. Und das Grundwasser ist verseucht, weil die Stadt ihre Bodenschätze mit einem Leasingvertrag an einen ausländischen Konzern veräussert hat. Aber Dath hat Ibsen nicht einfach ein paar inhaltliche Updates verpasst. Er holt das Stück von 1882 auf allen Ebenen in unsere postdemokratische Gegenwart, in der Politik nichts wert ist, solange sie nicht mit PR wattiert wird. Für Stockmanns Bruder, den intriganten Stadtvorsteher (Robert Hunger-Bühler), ist das Gemeinwesen sowieso nur eine Kostenfrage: Demokratie ist nicht besser, sie ist einfach billiger. Die Bevölkerung administriert sich ja selber, «DEMOnline» machts möglich.

Aber im digitalen Miteinander des frei verfügbaren Wissens und der vollen Transparenz lösen sich auch die Verantwortlichkeiten auf. So geht Demokratie 2.0, wie Stockmann merkt: «Alle wissen alles, aber niemand wills gewesen sein.» Und das linksliberale Kleinbürgertum, verkörpert in dem eingangs erwähnten Mässigungsapostel, hat sich sträflich bequem darin eingerichtet. Gegen Ende fliegt dann die ganze Stadt in die Luft. Aber nicht so, wie Sie jetzt denken.

«Ein Volksfeind». Regie: Stefan Pucher. Schauspielhaus Zürich. 
Bis 26. Oktober 2015.