Buch «Die gestohlene Revolution»: Schreien oder vor Schreck erstarren

Nr. 42 –

Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek erlebte Bombardierungen, sah die Toten und beschreibt Überlebensstrategien an und hinter der Front: ein fesselndes Mosaik des Grauens.

«Ich musste die Fähigkeit zum Schreiben erst langsam wieder entwickeln»: Samar Yazbek reiste dreimal heimlich nach Syrien. Foto: Muhsin Akgün

«Wenn wir jetzt sterben, wird die Welt unsere Geschichte erfahren, nicht wahr?»

Diese Frage stellt eine junge Frau der syrischen Schriftstellerin und Journalistin Samar Yazbek. Letztere reiste zwischen Sommer 2012 und Sommer 2013 dreimal heimlich über die Türkei nach Syrien, das sie im Sommer 2011 gemeinsam mit ihrer Tochter verlassen hatte, weil ihr Name auf der Todesliste der Regierung unter Baschar al-Assad aufgetaucht war. In ihrem Buch «Die gestohlene Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien» erzählt sie aus der Ich-Perspektive von Begegnungen mit Kämpfern aus unterschiedlichen Gruppen. Besuche bei verschiedenen Frauenprojekten nehmen ebenfalls viel Raum ein.

Yazbeks in sachlichem Ton gehaltene Erzählungen gehen unter die Haut. Sie reflektiert immer wieder ihre gefühlsmässigen Reaktionen auf das Erlebte; so, dass man als Leserin manchmal schreien oder in Schreckensstarre verfallen möchte. Von ihrer eigenen Erstarrung, davon, wie ihr die Erlebnisse den Verstand raubten, schreibt Yazbek im Nachwort des Buchs: «Die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die täglichen Massaker hatten mich verstummen lassen. Ich musste die Fähigkeit zum Schreiben erst langsam wieder entwickeln.»

Entscheidende Kräfteverschiebungen

Zum Glück ist ihr das gelungen, denn Yazbek gibt einen selten kenntnisreichen Einblick ins syrische Leben mitten im Krieg. Sie kehrt immer wieder zurück zu einer Familie in Sarakeb, einer Stadt in der nordwestsyrischen Provinz Idlib. Dort erlebt sie Bombardierungen, Aufenthalte im Schutzraum, das In-Deckung-Bleiben wegen der Scharfschützen: «Wir sprangen aus einem Fenster, dann auf eine Treppe ganz unten im Haus, von dort betraten wir den nächsten Hof. Wir nahmen unsere Schuhe in die Hand, wenn wir durch fremde Wohnungen liefen.» Das sechsjährige Mädchen Alaa stellt Yazbek die Frage, ob sie auch sterben wird. Als diese verneint, spottet Alaa: «Hahaha, das haben alle gesagt, und dann sind sie alle gestorben!»

Während Yazbeks Syrienaufenthalten gewinnen islamistische Gruppen zunehmend an Macht, die säkulare Opposition wird hingegen zurückgedrängt. Und Erstere bestehen oft nicht nur aus SyrerInnen: Yazbek schildert ihren Grenzübertritt im Februar 2013, bei dem sie einen Jemeniten und einen Saudi beobachtet. «Die beiden hatten nur leichtes Gepäck bei sich – es sollte wohl reichen für den Tod, auf den sie zusteuerten.» Die Revolution habe sich zunehmend in einen Religionskrieg verwandelt, schreibt sie. Islamistische Milizen wie die Ahrar al-Scham, die Al-Nusra-Front und der Islamische Staat (IS) kontrollierten die Kämpfe und den Alltag – mit fatalen Folgen, besonders für die Frauen. Mit grosser Bitterkeit schildert Yazbek bei ihrer Abreise im August 2013 die Situation: «Das war kein befreites Territorium mehr, kein syrisches Territorium. Salafistische dschihadistische bewaffnete Truppen hatten es überfallen. Gebiete im Norden, Dörfer und Städte, die die Syrer mit ihrem Blut befreit hatten, waren ein weiteres Mal besetzt worden. Die Träume der Revolution waren zunichte gemacht.»

Diese Revolution erlebte die 1970 geborene Autorin im Frühling 2011 hautnah mit, sie nahm an den Demonstrationen teil, wurde verhaftet und misshandelt. Die damaligen Ereignisse protokollierte sie in «Schrei nach Freiheit», ihrem ersten «Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution». Schon vor 2011 hatte sich Yazbek an Protesten gegen die Regierung beteiligt und sich für Frauen- und Bürgerrechte eingesetzt, obwohl sie aus einer wohlhabenden, regimenahen Familie stammt. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Paris, wo sie eine NGO zur Unterstützung von Frauenprojekten in Syrien gegründet hat. Den Frauen widmet sie denn auch einen grossen Teil ihres Buchs. Diese sind mitten im Kriegsgeschehen verantwortlich für das alltägliche Überleben, das «Existenzielle»: «Der Bombenhagel, die Verknappung der Lebensmittel, die Preissteigerungen und der Mangel an Strom und Wasser machten den Alltag zur Qual.» Die Not macht erfinderisch, sie schweisst zusammen. Im Projekt «Vorratskammer» kochen einige Frauen gemeinsam und geben das Essen zu günstigen Preisen ab. Andere Frauen halten sich mit Näharbeiten über Wasser. Ihre Kreativität und ihre Standhaftigkeit beeindrucken.

Die Opfer nicht vergessen

Yazbek schreckt in Syrien vor nichts zurück: nicht vor der Reise an die Front; nicht vor den Angehörigen islamistischer Milizen, die sie trifft und vor denen sie geheim halten muss, dass sie der alawitischen Religion angehört; nicht vor den Fassbomben und den zerfetzten Körpern, die sie hinterlassen. Sie versucht dabei, stark zu bleiben. «Dich zusammennehmen beim Anblick der abgerissenen Körperteile und der ungeheuren Zerstörung der Häuser, damit du keinen Augenblick vergisst, dass dein psychischer Zusammenbruch für die anderen ein weiteres Problem sein würde», appelliert sie an sich selbst inmitten einer Bombardierung.

Dahinter steht ein Ziel, das ihr vielleicht jeden Tag erneut Kraft verleiht: «Du darfst die Gesichter der Opfer nicht vergessen, damit du über sie schreiben und der Aussenwelt in allen Einzelheiten erzählen kannst, wie diese weissen Augen unter dem Himmel aussehen, aus dem es Fässer und kostenlose Todesgeschenke regnet.»

Samar Yazbek: Die gestohlene Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Nagel & Kimche. Zürich 2015. 287 Seiten. 28 Franken