Imre Kertész (1929–2016): Wider die tiefer sitzende Eingeengtheit

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Der am Donnerstag letzter Woche verstorbene Schriftsteller, Holocaustüberlebende und Nobelpreisträger Imre Kertész bleibt mit seinem Werk und seinen gesellschaftskritischen Positionen in seinem Geburtsland Ungarn äusserst unbequem.

Budapest. Eigentlich wollte er nie hierher zurückziehen. Allein die fortgeschrittene Krankheit zwang Imre Kertész vor drei Jahren zu diesem Exil. Hier starb am 31. März der mittlerweile weltberühmte Schriftsteller, der seine internationale Anerkennung in den letzten zwei Jahrzehnten manchmal als zermürbenden Fluch, öfter aber als verspäteten, unerwarteten Befreiungsschlag empfunden hatte.

Sein bekanntestes Buch, «Roman eines Schicksallosen», hatte er bereits in den sechziger und den frühen siebziger Jahren geschrieben, ehe es nach einem langen Kampf mit der sozialistischen Zensur 1975 in Budapest zwar veröffentlicht, aber kaum kommentiert wurde. Erst 1996 erschien die deutsche Übersetzung, die dem Autor Ruhm und 2002 auch den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Kertész ergriff die Chance und zog, nachdem er ein Jahr zwischen Budapest und Berlin gependelt war, definitiv nach Berlin – um endlich der provinziellen und erdrückenden Stimmung in Ungarn zu entgehen, wie er in einigen Interviews erklärte.

Damals wie heute hiess der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Doch Kertész floh nicht vor der aktuellen Politik. Die jüngsten Versionen des alten ungarischen Antisemitismus verstärkten eher jene tiefer sitzende Eingeengtheit, die ihm schon immer zu schaffen gemacht hatte. Nicht nur weigerte er sich standhaft, als Ungar oder als ungarischer Jude bezeichnet zu werden. Er mochte auch nicht als Teil der nationalen Literatur des Landes gelten. Beides stiess in Budapest selbst in liberalen Kreisen auf noch mehr Unverständnis als seine häufig pointierten gesellschaftskritischen Positionierungen.

Das Leben als «eigenes Schicksal»

Dabei verbrachte der 1929 in eine bürgerliche Budapester Familie hineingeborene Kertész den grössten Teil seines Lebens in der ungarischen Hauptstadt. Dorthin kehrte er 1945 als Jugendlicher zurück, nachdem er die Deportation nach Auschwitz und das Vernichtungslager Buchenwald überlebt hatte. Nach Kriegsende arbeitete er als Journalist, bis er wiederholt in Konflikt mit der stalinistischen Zensur geriet. Darauf schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, schrieb Boulevardstücke und Musicals und las viel, vor allem deutschsprachige Literatur und Philosophie. Unter anderem übersetzte er Werke von Friedrich Nietzsche, Ludwig Wittgenstein und Sigmund Freud ins Ungarische.

1990 dann trat Kertész aus dem ungarischen Schriftstellerverband aus – aus Protest gegen die tolerante Haltung der damaligen Führung gegenüber antisemitischen Vorfällen. Seither hat er viele Debatten angestossen und gehörte zu den intellektuellen Stimmen, die in der ungarischen Öffentlichkeit zwar als unbequem, aber durchaus mit Respekt wahrgenommen wurden.

In den vergangenen Tagen haben viele ungarische Medien den Schriftsteller als Ungarn zu «integrieren» versucht – das ist verfehlt. Verfehlt deshalb, weil so das eigentliche Hauptthema seiner Bücher verkürzt und letztlich missverstanden wird. Sicher, in seinem Werk beschäftigt sich Kertész fast obsessiv mit dem Holocaust, sei es in literarischer oder in essayistischer Form. «Das Leben nach Auschwitz» spielt sowohl in der Biografie des Autors als auch in seinem Werk die Schlüsselrolle und beschäftigte ihn in den letzten Jahren derart, dass er – nach zahlreichen Einladungen zu Gedenkveranstaltungen und Debatten – schliesslich erklärte, er sei zu einem Holocaustclown geworden. Damit drückte er allerdings weit mehr aus als sein Unbehagen gegenüber der offiziellen Erinnerungskultur und dem «Holocaustkitsch».

Für Kertész gehören die aktuelle Engstirnigkeit Ungarns und der Versuch, Menschen als Teil eines ethnisch, national oder kulturell vordefinierten Kollektivs zu kategorisieren, zu den deutlichen Anzeichen eines «Totalitarismus», wie ihn Hannah Arendt beschrieben hat und für den er den Begriff «Schicksallosigkeit» verwendet. Nur wer sich von den Kategorien des Kollektiven trennt, erfährt jenen «Moment der Freiheit», der das Leben zu einem «eigenen Schicksal» macht. Dabei geht es Kertész weniger um den Akt des politischen Widerstands. Ihn interessiert vielmehr die radikal individualistische, zugleich ethische und ästhetische Geste der Befreiung aus fremdgebastelten vermeintlichen Identitäten, die eine Geschichte über uns, aber nicht unsere Geschichte erzählen.

Vor kurzem erklärte Viktor Orban den Philosophen und Demokratietheoretiker Jürgen Habermas für gefährlich. Es gebe linksliberale Intellektuelle, die die «christlich-nationale Identität» Ungarns und Europas zu zerstören suchten, solchen Kosmopoliten müsse entgegengetreten werden. Die Ideologie der starken, organischen Zugehörigkeit und die Sehnsucht nach einer einfachen Ordnung, nach einer homogenen Gemeinschaft, auf der der ungarische Faschismus der Zwischenkriegszeit basierte – sie sind wieder salonfähig geworden und dominieren zunehmend die Öffentlichkeit. RegierungsvertreterInnen und die meisten Medien hetzen ungestört gegen ein Feindbild, das je nach aktueller Lage die Gestalt von Flüchtlingen, der Brüsseler Bürokratie oder von Nichtregierungsorganisationen annehmen kann. Revisionistische historische Ansätze prägen die offizielle Erinnerungs- und Kulturpolitik und werden auch in den Schulen fleissig verbreitet.

Im kulturellen Bürgerkrieg

Kertész, der bereits 2009 etwas zugespitzt feststellte, in Ungarn hätten Rassisten und Antisemiten das Sagen, war und ist jedenfalls nicht der Einzige, dem diese mittlerweile sehr populäre Grundstimmung so unerträglich erschien, dass er das Land verlassen musste. Zahlreiche ältere und vor allem jüngere Ungarinnen und Ungarn teilen seine Kritik und sind in den letzten Jahren nach Berlin oder nach London gezogen. Der kulturelle Bürgerkrieg, der in Budapest spätestens seit der Wende wieder tobt, dringt immer weiter in den Alltag hinein. Immer mehr Kämpfe werden von den AnhängerInnen einer geschlossenen Gesellschaft gewonnen. Der «Moment der Freiheit» wird wieder zu einem primär subjektiven und politisch wenig relevanten Erlebnis.

Im Unterschied zu den meisten anderen ungarischen Intellektuellen beschäftigten Kertész die osteuropäischen Hauptthemen der neunziger Jahre nur am Rand: die politische, soziale und wirtschaftliche Transformation, die Menschenrechte, das politische Engagement. Der Autor des «Romans eines Schicksallosen» war kein Vertreter eines klassischen liberalen oder linken Humanismus. Nach dem Holocaust sei eine solche Position unhaltbar geworden, argumentiert er mit Theodor W. Adorno. In einer eher skeptischen Tradition der literarischen Moderne problematisierte er vielmehr die Spannungsfelder und toten Winkel der Kultur. Kertész’ Erbe bleibt im heutigen Ungarn und im restlichen Europa aktueller denn je.