Syriens Zukunft: Assads Spiel mit dem Westen

Nr. 16 –

Hunderttausende Seiten an Geheimdokumenten belegen Baschar al-Assads direkte Verantwortung für grausamsten Staatsterror. Trotzdem: Je länger der syrische Krieg dauert, desto wahrscheinlicher bleibt der syrische Präsident an der Macht.

Man stelle sich nur vor, Baschar al-Assad wäre einmal über seinen Schatten gesprungen. Hätte er vor fünf Jahren doch mit den VertreterInnen der Protestbewegung geredet, statt sie erschiessen oder einkerkern zu lassen. Hätte sich Assad doch wenigstens später, als ihm die Kontrolle über das Staatsgebiet entglitt, mit seiner Grossfamilie nach Teheran oder Moskau abgesetzt und einfach in Ruhe sein riesiges Vermögen verprasst.

Mehrere Hunderttausend Menschen wären nicht getötet, Millionen wären nicht vertrieben worden. Ohne gescheiterten Staat hätte sich der Terrorismus in Syrien nicht festsetzen können. Und auch Europa hätte womöglich ein paar Probleme weniger: keine Flüchtlings- und keine Sicherheitskrise, vielleicht sogar ein kleineres Nationalismusproblem.

Die Entweder-oder-Propaganda

Nun ist Assad aber noch immer hier. Mitte vergangener Woche liess er, wie von der syrischen Verfassung vorgegeben, ein neues Parlament für seinen Rumpfstaat wählen, in dem noch etwa acht Millionen Menschen leben. Zuvor hatte er unter internationalem Beifall die Wüstenstadt Palmyra (inklusive der antiken Ruinen) vom sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückerobert; bald könnte er auch die Millionenstadt Aleppo zurückgewinnen. Während ihm die Regierungen Russlands und des Iran mitsamt alliierter Milizen dabei tatkräftig unter die Arme greifen, scheint sich langsam, aber sicher auch in den wichtigsten westlichen Hauptstädten die Ansicht durchzusetzen, dass Assad nicht das grösste aller Übel sei – und in einer Übergangsphase möglicherweise gar unabdingbar. Schliesslich stünden ja auch viele Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten zu Assad, heisst es immer wieder.

Kurz: Schlimmer als die wahrscheinlichste Alternative – der totale Staatszerfall und die Terrorherrschaft durch den IS – könne es mit Assad ja kaum kommen.

Entweder Assad oder die Extremisten: Seit fünf Jahren ist es das grosse Ziel der Regimepropaganda, genau diese Botschaft der Alternativlosigkeit lokal und global zu verankern. Je länger der Konflikt andauert und über die syrischen Grenzen hinaus spürbar bleibt, je länger sich auch die dschihadistische Propaganda global ausbreitet, desto mehr verfängt die Strategie. Der westliche Vereinfachungsfetischismus geht inzwischen gar so weit, dass es selbst in der Kategorie der Extremisten nur Platz für eine einzige Organisation gibt: den IS. Dessen dschihadistische Konkurrenz, die zu al-Kaida gehörende Al-Nusra-Front, wird heute in vielen Medien fast schon niedlich als «Rebellengruppe» beschrieben.

Stabilität: Kein Wert an sich

Unter dieser Voraussetzung könnte die laufende dritte Runde der Genfer Friedensgespräche in die Geschichte eingehen. Denn Assad könnte dort sein grosses Ziel erreichen: sich politisch zu rehabilitieren und ein gewichtiger Teil der Nachkriegsordnung zu werden.

Der vom Uno-Sicherheitsrat abgesegnete Plan Russlands und der USA, im Verhandlungsprozess die Rolle Assads in einer zukünftigen Übergangsregierung vorerst offenzulassen, kommt aber bei der lokalen Opposition ausgesprochen schlecht an. Kein Wunder, können sie sich doch ausrechnen, dass Assad durch ein solches Offenlassen ziemlich sicher die Fäden in der Hand behielte. Sie werden auch damit rechnen, dass zumindest die persische Grossmacht Iran niemals kampflos Assad fallen lassen würde, der ihr letzter direkter Alliierter im arabischen Raum ist.

Sobald Syrien wieder «stabilisiert» wäre, würde sich kaum noch jemand ausserhalb des Landes über die Assad-Frage Gedanken machen. Dem globalen Wunsch nach unbedingter Stabilität, der schon manchem Diktator eine lange Karriere beschert hat, würde sich vielleicht gar die Türkei anschliessen, falls sie sich dabei der Problemfelder «Flüchtlinge» und «Kurdenstaat» entledigen könnte.

Für die verbliebenen, überlebenden Oppositionellen – egal ob aus der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung oder aus syrischen Minderheiten – ist hingegen Stabilität kein Wert an sich, kein Versprechen besserer alter Zeiten. Ganz im Gegenteil, haben sie doch einschlägige Erfahrung mit dem Assad-Regime gemacht. Und die stellt alles in allem die bisherigen Taten von Dschihadorganisationen wie dem IS oder der Al-Nusra-Front in den Schatten.

Die «Assad Files»

Ein erdrückendes Zeugnis davon geben die «Assad Files», über die die US-Zeitschrift «The New Yorker» am vergangenen Montag berichtete. Es geht um mehrere Tonnen Papier, rund 600 000 Seiten offizieller Dokumente, die systematisch aus Syrien herausgeschmuggelt wurden. Dahinter steht die Commission for International Justice and Accountability (CIJA), eine private Aktion eines Briten, die inzwischen von einigen Staaten inklusive der Schweiz unterstützt wird. Unter der Anleitung der CIJA bargen AktivistInnen und vorrückende Rebellenorganisationen das teilweise hoch geheime Material aus Assads Sicherheitsapparat, versiegelten und versteckten die Kisten, bis sie aus dem Land geschafft werden konnten.

Einige der Dokumente sind Aufzeichnungen der sogenannten Zentralen Krisenmanagementzelle. Nach Ausbruch der Proteste im Frühling 2011 wurden dort systematisch Informationen dazu gesammelt und Massnahmen zur Niederschlagung des Aufstands erarbeitet. Letztere wurden von Assad immer persönlich abgesegnet oder ergänzt. Dass das Regime dabei in einem Ausmass folterte und mordete, das demjenigen des IS in nichts nachsteht, ist eigentlich bekannt: Schon letztes Jahr leakte ein ehemaliger Militärpolizeifotograf Tausende Fotos. Sie stammten aus dem berüchtigten Militärspital 601 und zeigten rund 11 000 bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen.

Die CIJA-Dokumente machen nun die Bürokratie des Folterns und Mordens deutlich – und vor allem auch, dass dies alles von Assad direkt befohlen war. Die Dokumente und Zeugenaussagen werden als Beweismaterial für ein zukünftiges Gerichtsverfahren bereitgehalten. Stephen Rapp, einer der CIJA-Gründer, ist sich sicher, dass dabei Assad und sein Umfeld wegen verschiedenster Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt würden. «Wenn der Tag der Gerechtigkeit kommt, werden wir bessere Beweismittel haben, als es sie jemals seit Nürnberg gab», sagte er gegenüber dem «New Yorker». In Nürnberg hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Prozesse gegen die Naziführung stattgefunden.

Vorbild im Sudan

Doch trotz Staatsterror sitzt das syrische Regime am Verhandlungstisch in Genf, stehen die Weltmedien Schlange für «Exklusivinterviews» mit Präsident Assad. Bei einem solchen Kaminzimmergespräch mit der US-Fernsehstation ABC hatte er gesagt, die Zusammenarbeit mit der Uno sei «ein Spiel, das wir spielen. Das heisst nicht, dass man daran glaubt.» Das Spiel geht derzeit so, dass Assad und seine Alliierten die Waffenruhe und die Verhandlungskulisse nutzen, um militärisch vorzurücken; nicht nur gegen die vom Waffenstillstand ausgenommenen DschihadistInnen, sondern auch gegen eigentliche Oppositionskräfte.

Aus Protest gegen schwere Bombardements sind am Dienstag denn auch sämtliche OppositionsvertreterInnen aus Genf abgereist. Ein Sprecher des US-Aussenministeriums sagte, die Feuerpause sei zwar brüchig, werde aber grösstenteils eingehalten. Deshalb sollen die Friedensgespräche weitergehen. Kein Wunder, denn die «internationale Gemeinschaft» steht unter hohem Druck, endlich Resultate zu liefern. Wenn nötig halt mit Assad, dessen Abgesandte bald die einzigen SyrerInnen am Verhandlungstisch sind. Ein Spielverlauf ganz im Sinn des Regimes.

Weshalb sollte das Regime in einer Nachkriegsordnung etwas an seiner bisherigen Unterdrückungsbürokratie ändern? Vor internationalem Druck, der schon jetzt nicht funktioniert, müsste es jedenfalls keine Angst haben. Selbst wenn dann einmal die «Assad Files» zum Zuge kämen, hiesse das noch nicht viel: Assads sudanesischer Amtskollege Omar al-Baschir regiert unbehelligt weiter, obwohl der Internationale Strafgerichtshof ihn vor Jahren wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord angeklagt hat. Das ist die Stabilität, die die syrischen Oppositionellen so sehr fürchten.