Demenz: «Du kannst nur noch eins für mich tun»

Nr. 17 –

Zuerst waren die Veränderungen fast unmerklich. Doch bald erkannte er nicht einmal seine eigene Frau. Das Einzige, was er noch wollte: möglichst bald in Würde sterben können. – Gedanken einer zurückbleibenden Angehörigen.

Vor zwanzig Jahren verstarb mein erster Mann während des Schlafs an einem Herzinfarkt. Ich war damals 31 Jahre alt. Plötzlich und unerwartet wurde ich mit dem Sterben konfrontiert. Bis dahin hatte ich mir darüber eigentlich keine Gedanken gemacht. In der Zeit danach setzte ich mich mit diesem Thema auseinander. Eine Folge davon war, dass ich Mitglied bei Exit wurde – weil mir klar wurde, dass es auch sehr unwürdige Arten des Sterbens gibt.

Unwürdig heisst für mich, wenn jemand nur noch dahinvegetiert und nichts mehr über sich selbst weiss. Ich habe in meiner Patientenverfügung festgelegt, dass ich in so einer Situation möglichst bald erlöst werden möchte. Meinen Sohn habe ich darum gebeten, mir zu helfen, rechtzeitig zu gehen, falls dies je der Fall sein sollte. Geprägt hat mich dabei auch eine Freundin, die Nachtwachen in einem Heim macht. Immer wieder hat sie erzählt, wie schlimm es den Leuten zum Teil geht.

Erst schleichend, dann auffälliger

Einige Zeit nach dem Herzinfarkt meines ersten Mannes lernte ich meinen zweiten Mann kennen. Im Lauf unserer Beziehung habe ich das Thema Freitod mit ihm diskutiert. Anfänglich stellte sich mein Mann auf den Standpunkt, dass Suizid keine Lösung sei, dass es immer einen Weg gebe. Er selber hat sich das bewiesen, indem er ein schweres Nierenleiden und ein paar Jahre später einen Hirntumor überstanden hat. Mein Mann war ein Mensch, der mit beiden Beinen im Leben stand, einen anspruchsvollen Beruf ausübte und leidenschaftlich Sport trieb.

2008 bemerkte ich bei ihm eine Persönlichkeitsveränderung, anfangs schleichend, dann immer auffälliger. Er zog sich immer mehr zurück, war bei Anlässen nicht mehr der unterhaltsame Gesprächspartner.

Nachdem er selbst sich dieser Veränderung bewusst geworden war, liess er sich für einen gründlichen Check ins Spital einweisen. Seine Angst: dass der Tumor im Kopf zurückgekehrt sei. Mein Mann wurde von Kopf bis Fuss untersucht – doch es konnte neurologisch nichts Besorgniserregendes festgestellt werden. Daraufhin wurde er an den psychiatrischen Dienst überwiesen, zwecks Behandlung von Depressionen.

Die Veränderungen wurden immer offensichtlicher. Die behandelnde Psychiaterin jedoch beharrte stur auf der Diagnose «Depression», obwohl ich sie regelmässig fragte, ob es sich nicht auch um eine Art von Alzheimer handeln könne.

Erst als der Vorgesetzte meines Mannes Druck machte, wurde er endlich zur gründlichen Abklärung in eine psychiatrische Klinik überwiesen; bis zu diesem Zeitpunkt stand er noch immer voll im Berufsleben – im Nachhinein ist das eigentlich unglaublich.

Im Juni 2010 trat mein Mann in die Klinik ein. Dort wurde er zuerst weiterhin auf Depressionen behandelt. Ich war glücklich und glaubte schon, ich hätte nur mich selber verrückt gemacht mit meinen Mutmassungen – und war sicher, dass ihm nun geholfen würde.

Schon bald aber wurde klar, was der Grund für die Persönlichkeitsveränderungen war. Die Diagnose: Demenz.

Niemand kann sich das vorstellen

Bereits im September erkannte mein Mann teilweise die Pflegefachkräfte und seine behandelnden ÄrztInnen in der Klinik nicht mehr. Im Oktober wurde er aus dem Spital entlassen, da man ihm dort nicht mehr helfen konnte und eine Therapie aussichtslos sei. Man sagte mir, ich solle mir schnell Gedanken über seine Unterbringung machen, da er eine sehr aggressive Form dieser Krankheit habe: frontotemporale Demenz.

Mein Mann wurde völlig emotionslos, seine vorher so ausgeprägte Empathie war weg, seine Persönlichkeitsveränderung total. Bereits im November erkannte mich mein Mann sporadisch nicht mehr. Niemand, der das nicht erlebt hat, kann sich vorstellen, was das heisst. Dass er sich dieser Ausfälle sehr wohl bewusst war, machte das Ganze nur noch schlimmer.

Eines Abends sagte mein Mann völlig überraschend zu mir: «Es gibt nur noch eins, was du für mich tun kannst: Du musst mir helfen, in Würde zu gehen. Organisiere das für mich, das ist alles, worum ich dich bitte. Wenn du mir nicht hilfst, werfe ich mich vor den Zug.»

Mein Mann, der immer auch für andere da gewesen war, kapitulierte: Er war sich bewusst, dass er diesmal den Kampf verlieren würde – dass er nicht einmal die Möglichkeit, zu kämpfen, besass.

Nach seinem Entschluss, sein Leben so zu beenden, hat er nie mehr an diesem Entscheid gezweifelt. Es war eines der letzten Ziele, die er konsequent verfolgte.

Das Tabu überwinden

Für mich war es schwieriger. Man will ja einen Menschen, den man liebt, nicht einfach gehen lassen. Das Schlimmste war für mich, dass er all die Kontakte mit Exit und die für einen begleiteten Suizid erforderliche Zweitmeinung eines Psychiaters nicht mehr selbst organisieren konnte, sodass ich das für ihn übernehmen musste. So viele Termine und Telefongespräche – und immer ging es um den Tod meines Mannes! Auf seinen Hausarzt konnten wir nicht zählen, da er entschieden gegen Exit war.

Drei Monate später, nach diversen Gesprächen mit Exit und einem Psychologen, konnte mein Mann noch in Würde gehen.

Ich war dabei. Und weil mein Mann das Pentobarbiturat, den Giftbecher, so souverän einnahm, stimmte es auch für mich. Ich würde es wieder tun. Ich funktionierte einfach. Auch litt ich nachher nicht an einem Trauma, da es für ihn ja gestimmt hat – und wir konnten uns zusammen darauf vorbereiten. Schwierig war für ihn eigentlich nur, dass es so lange ging ab dem Moment seines Entscheids. Exit hat das Ganze eben sehr sorgfältig abgeklärt.

Entsetzlich hingegen war, dass sich mein Mann für diesen Entscheid geschämt hat. Er, der immer nach einer Lösung gesucht und eigentlich auch immer eine gefunden hat, hatte gegen diese Krankheit keine Chance. Und so musste ich ihm versprechen, seinen Entschluss, mit Exit aus dem Leben zu gehen, bis zu seinem Tod geheim zu halten. Das führte zu fast unerträglichen Situationen, ich bin daran fast zerbrochen.

Es kann nicht sein, dass man sich heimlich aus dem Leben schleichen muss, nur weil dieses Thema für viele Menschen noch immer ein Tabu ist. Ich sage es jedem, der fragt, wie mein Mann gestorben ist: Ja, mein Mann hat sich mit Exit das Leben genommen, und ich bewundere seinen Mut. Er hat seine Prinzipien auf den Kopf gestellt und sich für diesen Weg entschieden.

Jeder darf es wissen, dazu stehe ich.

Marion Schaffner (52) ist heute vor allem im Tierschutz engagiert.

Literatur: Ruth Schäuble-Meyer: «Alzheimer: Wie will ich noch leben – wie sterben?». 87 Seiten. Oesch Verlag. Zürich 2010. Vierte Auflage.

Demenz und Menschenwürde

In der Schweiz leiden über 100 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Wie geht eine Gesellschaft mit Menschen um, die ihre Selbstbestimmung verlieren? Was heisst das für Angehörige? Wie sieht es in den Pflegeheimen aus? Wie dringend braucht es eine Diskussion über den begleiteten Freitod von Demenzkranken? In einer kleinen Serie beschäftigen sich verschiedene Autorinnen mit diesen Themen.

Die Bilder zur Serie entstammen der Zusammenarbeit der Künstlerin Regine von Felten mit ihrer an Demenz erkrankten Grossmutter unter dem Titel «Pilze haben keine Blätter». Die Grossmutter bearbeitet jeweils die Fotos, die ihre Enkelin von ihr macht.