Gezeichnete Reportage: Der lange Weg nach Europa

Nr. 20 –

Die Illustratorin Isabel Peterhans war in der Türkei, in Griechenland und Mazedonien unterwegs. Sie zeichnete Begegnungen mit Flüchtlingen und HelferInnen, die ganz anders verlaufen wären, wenn sie fotografiert hätte.

(Grosse Ansicht der Illustration)
(Grosse Ansicht der Illustration)

Die Zeichnerin: Abbilden, ohne zu entblössen

WOZ: Isabel Peterhans, Sie waren zusammen mit einer Journalistin einen Monat lang in der Türkei, in Griechenland und Mazedonien entlang der Fluchtrouten unterwegs. Ihre Begegnungen haben Sie zeichnerisch festgehalten. Wie sind Sie auf die Leute zugegangen?
Isabel Peterhans: Ein Journalist hatte mir vor meiner Abreise geraten, Süssigkeiten für die Kinder mitzunehmen, so komme man rasch auch mit Erwachsenen ins Gespräch. Meine Süssigkeiten waren im Nu weg. Doch ich brauchte sie gar nicht. Ich konnte mich einfach irgendwohin setzen und anfangen zu zeichnen. Früher oder später kamen immer Leute, um mir zuzuschauen. Viele baten mich dann, ein Porträt von ihnen zu zeichnen. Das habe ich meistens auch gemacht, aber manchmal waren es so viele Leute, dass ich irgendwann abbrechen musste.

Welche Begegnung ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Im türkischen Cesme begleitete ich eine Gruppe von Freiwilligen. Wir trafen eine Familie, die auf einem Kinderspielplatz wohnte. Sie hatten sich dort behelfsmässig ein Matratzenlager eingerichtet. Ein Helfer wollte sie fotografieren, doch die Familie lehnte das ab. Sie wollten nicht, dass ihre Notsituation fotografisch verewigt wird. Nach einer Weile zeigte ich ihnen mein Skizzenbuch. Sie luden mich ein, auf ihre Matratzen zu sitzen, und ich durfte sie zeichnen.

Was unterscheidet Fotografie von Zeichnungen?
Fotos werden trotz der schier unbegrenzten Möglichkeiten, sie zu bearbeiten, noch immer als direkte Abbildung der Realität oder gar als eine Art Beweis gesehen. Eine Zeichnung ist hingegen eine viel offensichtlichere Interpretation des Künstlers. Viele der Menschen, die wir getroffen haben, wollten nicht, dass ihre Familien im Herkunfts- oder Zielland erfahren, unter welchen Umständen sie auf ihrer Flucht leben. Eine Zeichnung ermöglicht, Menschen darzustellen, ohne sie zu entblössen. Sie ist abstrakter als eine Fotografie und lässt ihnen ihre Würde. So kann man Menschen ein Gesicht geben, die nicht erkannt werden möchten. Viele der Helfer, die wir getroffen haben, arbeiten in legalen Graubereichen und möchten daher nicht erkannt werden.

Entlang der Fluchtrouten sind dieser Tage unzählige Kamerateams unterwegs. Sie beliefern uns mit unzähligen Bildern von Flüchtlingen in prekärsten Situationen. Für Ihr Projekt wählten Sie einen neuen Fokus, indem Sie über die Freiwilligen berichten, und mit der Zeichnung auch ein neues Medium der Darstellung.
Wir trafen viele Menschen, die keine Lust mehr hatten, mit Journalisten zu sprechen. Zu oft hatten sie schon ihre Geschichte erzählt, ohne dass sich etwas verbessert hätte. Mit unserem Fokus auf die Helfenden wollten wir eine andere Perspektive einnehmen. Über die Helfer kamen wir dann auch in Kontakt mit den Flüchtlingen. Und wir wollten auch neue Bilder schaffen. Es gibt schon so viele Bilder, die Erschütterndes zeigen. Doch ob der schieren Anzahl haben wir uns gewissermassen daran gewöhnt und stumpfen ab.

Beim Zeichnen dürfte sich allein schon durch die Langsamkeit eine andere Aufmerksamkeit für die porträtierte Person ergeben.
Genau. Zeichnen ist unglaublich langsam. Ich sitze den Menschen gegenüber, schaue sie immer wieder an, ich bin da und nehme sie wahr. Viele haben irgendwann von sich aus angefangen zu erzählen. Einfach so. Jeder Mensch freut sich, gezeichnet zu werden. Ausserdem kann man eine Zeichnung nicht stehlen.

Wie meinen Sie das?
Ich traf unterwegs einen Fotografen, der mir erzählte, dass er die Kamera jeweils eingeschaltet um den Hals hängen lasse und heimlich auf den Auslöser drücke. Zeichnen kann man kaum unentdeckt. Und es braucht Zeit. Von daher vermittelt es den Porträtierten vielleicht auch eher das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und nicht einer von Tausenden. Fotos tendieren dazu, Menschen in eine einzige Rolle reinzuquetschen. Zeichnungen überlassen der Betrachterin viel mehr Interpretationsraum.

Die Illustratorin

Isabel Peterhans (29) ist freischaffende Illustratorin aus Kriens. Sie veröffentlichte bereits Zeichnungsreportagen aus Haiti und Israel/Palästina. Die Reportage entlang der Fluchtrouten durch die Türkei, Griechenland und Mazedonien unternahm sie im Februar gemeinsam mit der Journalistin Juliane Löffler im Rahmen eines Stipendiums der Robert-Bosch-Stiftung. Weitere Zeichnungen finden Sie unter isabelpeterhans.ch.