CVP: «Wir müssen verlieren lernen»

Nr. 22 –

Die Rolle der CVP als Zünglein an der Waage verlieh der Partei über ihre Wählerstärke hinaus politisches Gewicht. Nach dem Rechtsrutsch ist die Partei auf Selbstfindungskurs. Wie das ausgeht, ist offen. Die gefährliche Liebschaft, die sie gerade mit der SVP eingeht, könnte sich als verhängnisvoll erweisen.

Thomas Aeschi beugt sich zu Leo Müller hinunter. «Abgeschifft», sagt er. Eben hat auch der Nationalrat Homosexuellen die Adoption von Stiefkindern erlaubt. Doch es ist nicht diese gesellschaftspolitische Niederlage, die Finanzpolitiker Aeschi umtreibt. An diesem Montagabend hat die kleine Kammer die Unternehmenssteuerreform III in zweiter Lesung beraten und am Ende den Steuerabzug auf überschüssiges Eigenkapital abgelehnt. Eine schmerzliche Niederlage für den rechten Block. «26 zu 19», raunt Aeschi Müller ins Ohr und macht dann auf dem Absatz kehrt. Leo Müllers Mundwinkel zucken nur leicht, aber diese Nachricht kann nicht nach dem Geschmack des rechtsbürgerlichen CVPlers sein.

Leo Müller ist seit 2011 Nationalrat. Vier Jahre war er Präsident der Finanzkommission. Seit kurzem sitzt er für seine Partei in der einflussreichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Die WAK hat bei der Unternehmenssteuerreform das Fuder schamlos überladen: Auf die vom Ständerat beschlossenen 1,3 Milliarden Steuererleichterungen packte die WAK nochmals 850 Millionen drauf. Das ging selbst Finanzminister Ueli Maurer zu weit. Er rief zur Mässigung auf, «weil das Volk das sonst nicht mehr versteht». Leo Müller hatte in der WAK geschlossen mit der rechten Mehrheit von SVP und FDP gestimmt. Dafür unterstützten die Rechten seinen Vorstoss, den Verkauf von Bauernland privilegiert zu versteuern. Die Allianz aus Bauern- und FinanzvertreterInnen ist ganz nach dem Geschmack des neuen CVP-Präsidenten Gerhard Pfister. Der Zuger lobte Bauernpräsident und CVP-Fraktionschef Markus Ritter, der dem Vorstoss zum Bauland zur Mehrheit verhalf, als «erfolgreichen Strippenzieher». Im Parlament wird dem Rheintaler Landwirt Ritter nachgesagt, er weible mit aggressiven Kuhhandelmethoden für seine Geschäfte: Gibst du mir, so geb ich dir.

Auch Leo Müller ist ein Bauernvertreter. Früher war er selbst Landwirt, ehe er Jus studierte. Wie seine KollegInnen von der SVP ist er skeptisch gegenüber staatlichen Zuwendungen – wenn es nicht gerade um Agrarsubventionen geht. Er habe während des Studiums keinen Rappen vom Staat erhalten und sich alles selbst erarbeitet. «Das prägte meine politische Einstellung.» Der Luzerner ist wirtschaftsfreundlich und wertkonservativ. Müllers Linie deckt sich mit der von Gerhard Pfister, wie dieser entstammt er dem katholisch-konservativen Milieu, wie dieser will auch er die CVP «klar bürgerlich und wertkonservativ» positionieren. Eine neue Regelung erinnert an den autoritären Groove der SVP: In Kernthemen gibt künftig die rechtsbürgerlich dominierte Fraktionsleitung den Kurs der CVP-Fraktion vor, sofern in der Fraktionsleitung eine Zweidrittelmehrheit zustimmt. Als die neue Regelung bekannt wurde, wiegelte Pfister ab: Abweichende Meinungen seien selbstverständlich weiterhin erwünscht. Dabei ist absehbar, dass dieser autoritäre Kurs innerhalb der CVP-Fraktion nicht ohne Folgen bleiben wird. Kernthemen, sagt Müller, seien für ihn die Finanz- und Standortpolitik. Und auch in der Familienpolitik müsse die Partei klar zu ihren traditionellen Werten stehen.

Heimatlose Basis

Den sozialen Flügel der CVP scheint dieses neue Streben nach konservativer Geschlossenheit nicht zu beunruhigen. Die Analyse der zum linken Flügel der Partei gehörenden Zürcher CVP-Nationalrätin Barbara Schmid-Federer bei einem Kaffee in einer Zürcher Gartenbeiz ist widersprüchlich. Zunächst stellt sie fest: «Das ganze Parlament ist nach den Wahlen nach rechts gerutscht – und mit ihm auch die CVP.» Und dann: «Doch unter Gerhard Pfister ist der sozialliberale Flügel der Partei nicht unter Druck – im Gegenteil. Pfister ist sich bewusst, dass der linke Flügel zur CVP gehört. Er will die Vielfalt nicht zerstören.»

Bauchschmerzen bereitet der Gesundheitspolitikerin die aktuelle Session dennoch. Es sei derzeit immer das Gleiche: Sozial tragfähige Vorlagen aus der vergangenen Legislatur – etwa die Betreuung schwer pflegebedürftiger Kinder – weise der neue bürgerliche Rechtsblock wieder zurück an die Gesundheitskommission. Im Nationalrat gilt gemäss Federer eine alles entscheidende Prämisse: Der Finanzhaushalt ist aus dem Lot, daher muss gespart werden. «Übertrieben selbstbewusst» trete das rechte Lager auf. Besonders die FDP beflügelt ihr Wahlsieg nach den Niederlagen der letzten Jahrzehnte. Doch dem rechten Block entgehe Entscheidendes. «Sie vergessen, weshalb sie im Herbst zugelegt haben: Das Asylthema dominierte damals alles, die Wähler gaben ein Angstvotum ab.» Doch viele Projekte, die nun angegriffen würden, hätten in der Bevölkerung grossen Rückhalt. «Das Rentenalter 67 etwa halte ich nicht für mehrheitsfähig.»

Barbara Schmid-Federer stimmte im Nationalrat für den Vaterschaftsurlaub und gegen das Steuergeschenk für die Bauern. Doch wirklich wichtig sei in dieser Legislatur die ausserparlamentarische Arbeit. Der Bedeutungsverlust der fortschrittlichen parlamentarischen Mitte hinterlasse ein Vakuum. In dieses Vakuum stossen inzwischen ausserparlamentarische Kräfte vor: Das zeige beispielsweise die Gründung des Vereins Operation Libero, der bei der Abstimmung über die «Durchsetzungsinitiative» stark zu mobilisieren vermochte und der SVP eine Niederlage beibrachte. Im Gespräch mit der Basis werde die Unzufriedenheit spürbar. «Meine Wähler haben ein liberal-soziales Gedankengut. In Bern fühlen sie sich immer weniger vertreten.»

Den Bogen massiv überspannt

Ein typischer Vertreter des sozialliberalen CVP-Flügels ist der Solothurner Nationalrat Stefan Müller-Altermatt. Er stimmte für die überladene Unternehmenssteuerreform III, aber auch für einen Vaterschaftsurlaub. Müller-Altermatt ist vor allem Energiepolitiker, der in der Energiekommission erfolglos für eine Laufzeitbeschränkung der Atomkraftwerke kämpfte. Dass der Mann aus der Partei von Energiewende-Bundesrätin Doris Leuthard damit nicht durchkam, ist eine Enttäuschung. Doch, ganz CVPler, kann er mit dem erreichten Kompromiss leben. Anders als die Linke, die die Energiereform bereits begraben habe. Und Müller-Altermatt stellt klar: Der Rechtsrutsch im Parlament sei nicht so wirkungsvoll wie unterstellt. Bürgerlich sei das Parlament schliesslich schon vor den letzten Wahlen gewesen. Und man dürfe nicht vergessen, dass nur im Nationalrat eine klare SVP-FDP-Mehrheit bestehe. «Man sieht es ja bereits in dieser Session: Es kommt überall zu Pattsituationen. Bei der Differenzbereinigung ist zudem die kleine Kammer viel stärker: Im Nationalrat wird Parteipolitik gemacht, im Ständerat zusammengearbeitet.»

Aber auch Müller-Altermatt kommt zum Schluss: Die Rechten überspannen den Bogen im Nationalrat «massiv». Der Graben verlaufe heute nicht mehr nur zwischen Sozialismus und Kapitalismus. «Er verläuft auch zwischen den Kräften, die eine fortschrittliche, offene Schweiz propagieren, und jenen, die sich abschotten wollen.» Wer sich zu nahe an diesem Grabe bewege, drohe hineinzufallen. Und was heisst das für die CVP? Dass eine zu starke Annäherung an die Rechten nicht die Lösung sei. Die CVP muss in Müller-Altermatts Augen vor allem eines lernen: verlieren. Sich den dominierenden Mächten anzuschliessen, sei verführerisch. Doch grenze sich die CVP nicht ab, drohe diese Legislatur zum Boomerang zu werden: «Dann können wir dereinst nicht sagen: Das haben andere verschuldet.»

Immer weiter abwärts

Als die CVP 1971 gegründet wurde, war das Ziel klar: Nach Vorbild der deutschen CDU wollte die Partei zu einer breiten bürgerlichen Kraft werden. Das misslang. Bis heute besteht ein Graben zwischen den Strömungen, aus der die Partei hervorging: der katholisch-konservativen und der christlich-sozialen. Wobei der christlich-soziale Flügel zunehmend an Einfluss verliert.

Bei eidgenössischen Wahlen verlor die CVP seit 1971 drastisch: War sie bei ihrer Gründung mit 20,3 Prozentpunkten noch quasi gleichauf mit der FDP, verlor sie bis Anfang der neunziger Jahre zwei Prozentpunkte. Parallel zum Aufstieg der SVP ging es seit Mitte der Neunziger mit der sozial-konservativen Kraft bergab: 1995 lag die CVP bei 16,8 Prozent Wähleranteil, 2007 bei 14,4, und 2015 waren es gerade noch 11,6. Die SVP hatte sich in den katholisch-ländlichen Stammlanden bald festgesetzt und die konservative Klientel der CVP für sich gewinnen können.

Auch die FDP verlor bis zu den Wahlen 2011 kontinuierlich, allerdings weniger dramatisch als die CVP.