Auf allen Kanälen: Nach der Newsorgie

Nr. 31 –

Wem nützt das Nachrichtenschnellfeuer, das wir in den ersten Stunden nach einem Ereignis auf unseren Geräten in Gang setzen? Und was kann man gegen die Konfusion im Kopf tun?

Vielleicht ist das Problem, dass man plötzlich meint, alles hänge irgendwie mit allem zusammen. Dass der Anschlag von Nizza, der Putsch in der Türkei, der Amoklauf von München, Donald Trump und das virtuelle Fangspiel «Pokémon Go» einen gemeinsamen höheren Sinn bärgen, den man nur zu entschlüsseln bräuchte. Aber entsteht dieser Eindruck nicht vor allem deshalb, weil alles über dasselbe Smartphone-Display läuft? Was hier zufällig zusammenkommt, muss doch irgendwie zusammenhängen. Auf unseren Bildschirmen und in unseren Köpfen vermengen sich Nachrichten und alles, was wir dafür halten, zu einem heillosen Brei, der immer weiter hochkocht. Bloss, wer soll ihn auslöffeln? Die Zombies der Apokalypse?

Unter Hashtags wie #Ansbach #Turkey, #Munich häufen sich in kürzester Zeit Unmengen wahllos zusammengeworfener Tweets aus allen möglichen Quellen. Bevor es einigermassen gesicherte Informationen gibt, holen wir uns so eine ungefilterte Kakofonie aus Meinungen, Gegenmeinungen, Gerüchten, Hetzreden und Verschwörungstheorien in unsere Köpfe. Und dazwischen postet irgendein Christian ein Bild von einem norwegischen Fjord, als Trost «gegen allen Terror-Trump-Türkei-Irrsinn».

Wem nützt die Verunsicherung?

Im TV heisst der Ausnahmezustand «Sondersendung». Mangels harter Informationen wird auch hier vor allem aus dem Internet vorgelesen und geredet – oft inhaltsarm und wiederholungsreich. In der Psychiatrie nennt man das neurotische Zwangsstörung. Jede Stille, jedes Eingeständnis von Nichtwissen würden unangenehm auffallen, obwohl es gerade diese auszuhalten gälte. Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt das Dilemma konzis als «Ungewissheit bei gleichzeitigem gefühltem Sofortsende-Zwang». Die erstaunlich ganzheitliche und apolitische Schlussbilanz nach solchen Nachrichtenorgien lautet dann jeweils «Die Welt ist aus den Fugen». Nur, was sagt mir das jetzt? Wem nützen solche Formeln der Verunsicherung? Wer hat in den letzten Jahren am effizientesten mit Angst Politik gemacht?

Klar ist: Auffallend viele TurboschlussfolgerInnen im Netz stammen aus der extrem rechten Ecke. Wie der IS vorauseilend fast jeden irren Attentäter stolz zu einem seiner «Soldaten» macht, stehen auch die Twitter-SoldatInnen von AfD und SVP allzeit bereit, um jede Gewalttat für ihre fremdenfeindliche Hetzpolitik zu instrumentalisieren: «Währen wir an der Macht, währe dies nicht passiert #Reutlingen #Terroranschlag #machete», twittert die AfD Reutlingen ohne Rücksicht auf Pietät und Rechtschreibung.

Lockstoff für kranke Wölfe

Womöglich rufen die vielen Breaking News, Nachrichtenschnipsel der Liveticker und Twitter-Kommentare direkt aus der Hitze des Gefechts sogar NachahmerInnen auf den Plan, deren eigenes Durcheinander im Kopf nun plötzlich eine Richtung erhält. Die intensive mediale Beschäftigung mit Tätern muss für andere kranke Wölfe vor ihren Bildschirmen wie ein Lockstoff wirken. Und wie ein Drehbuch zum Selberberühmtwerden: «Glock 17 – die ‹Todesmaschine›», «Spitzname Rambo» und «Attentäter kündigte ‹Racheakt› auf Handy-Video an» – es sind Schlagzeilen, die wie Instruktionsbotschaften formuliert sind.

Was tun? Anstatt sich von den Eilmeldungen und Twitter-Feeds wie von einem schlecht zusammengeflickten Horror- oder Actionfilm zudröhnen oder aufputschen zu lassen, könnten wir uns vermehrt echten Fiktionen zuwenden. Denn Romane, Spielfilme und TV-Serien trainieren uns, das Notwendige und Wesentliche vom Zufälligen oder Beiläufigen zu unterscheiden. Sie schärfen die Wahrnehmung für echte und falsche Zusammenhänge, aber auch für die entscheidende Differenz zwischen Fiktion und Realität. Lesen ist Delirieren, Fantasieren und Denken in Freiheit – ohne reale Konsequenzen. Deshalb wirken Bücher und Filme noch viel sinnstiftender als der viel gelobte Polizeisprecher von München. Entscheidend ist die geschlossene Form, die jemand anders für uns erarbeitet hat. Eine fiktionale Erzählung besteht in der Regel aus Anfang, Mitte, Ende. Das mag banal klingen, hat aber einen ungeahnt klärenden Effekt auf konfuse Köpfe.

Ein paar Tage nach einem Ereignis kann man auch wieder zu Zeitungen greifen und sich anderen Medien zuwenden. Die guten Analysen, die sich politisch nicht so einfach vereinnahmen lassen, sind sowieso erst dann parat.