Jürg Frischknecht (1947–2016): Seine Unabhängigkeit hütete er wie einen Schatz

Nr. 31 –

Jürg Frischknecht zählte zu den profiliertesten JournalistInnen der Schweiz. WOZ-Redaktorin Ruth Wysseier erinnert an den kritischen Rechercheur als sinnlichen Menschen, der die Dinge zum Besseren wenden wollte.

Spitzel- und Patriotenschreck: Jürg Frischknecht 1992 an einem WOZ-Podium. Foto: Jules Spinatsch, WOZ

Es freue ihn enorm, sagte Jürg oft in den letzten Wochen, dass die Projekte, die ihm besonders am Herzen lägen, so gut unterwegs seien: die WOZ, das Bildungszentrum Salecina, der Rotpunktverlag und das Gasthaus San Martino im Valle Maira. Jürg hat viel lieber über seine Projekte gesprochen als über sich selbst.

Aufgewachsen war er in Herisau. Die Familie, erinnert sich Schwester Vreni, wohnte im Schulhaus, der Vater war Lehrer und gleichzeitig Abwart, die Mutter Schneiderin. In der Pfadi hiess Jürg «Sperber», und schon als Schüler, bevor er in St. Gallen in die Kanti kam, hat er Skirennen für den Bezirk organisiert, später auch mal eine Bachputzete. Die Liebe zum Schnee und die Sorge für die Umwelt waren also schon früh angelegt, ebenso sein politisches Engagement: Jürg setzte sich für das Frauenstimmrecht ein und war im appenzellischen Forum für politische Unternehmungen aktiv.

Zwischen Kanti und Rekrutenschule machte er einen Stage bei der «Appenzeller Zeitung». Schon während des Studiums in Zürich – Soziologie, Publizistik und Geschichte – arbeitete er für die Nachrichtenagentur upi und die linksliberale Basler «Nationalzeitung». Doch nach ihrer Fusion zur «Basler Zeitung» und einem Rechtsrutsch erhielt Jürg ein Schreibverbot als Zürcher Korrespondent und durfte nur noch über Medienthemen berichten.

Einen politischen Coup landete Jürg im November 1976, als er zusammen mit anderen Aktivisten des Demokratischen Manifests einen Spitzel des Zürcher «Subversivenjägers» Ernst Cincera enttarnte, sich in Cinceras Archiv führen liess und dort einen Teil der Karteikarten und Unterlagen behändigte. Ernst Cincera hatte systematisch die Linke in der Schweiz bespitzelt und denunziert.

Als 1981 die WOZ startete, lieferte Jürg gleich in der ersten Ausgabe einen Primeur. Er enthüllte geheime Bohrpläne der Nagra. Mehr als zwei Jahrzehnte war er einer der wichtigsten Mitarbeiter und Unterstützer der Zeitung, doch festes Redaktionsmitglied wurde er nie.

Nun ist es ja nicht so schwer, solange man noch nicht dreissig ist, frei und engagiert zu leben und nicht dem Verdienst hinterherzurennen. Das Besondere an Jürg war, dass er dabei blieb. Seine Unabhängigkeit hütete er wie einen Schatz. Er folgte seinem eigenen Kompass, war vielleicht auch mal stur, aber nie ideologisch verbohrt. Schon in den siebziger Jahren, als die Leute vom Revolutionären Aufbau ihn zur Mitgliedschaft drängten, lehnte er dankend ab. Im Ferien- und Bildungszentrum Salecina, das er über Theo Pinkus kennengelernt hatte, versuchte er sich drei Monate als Aushilfshüttenwart. Dann nahm er wieder seine äusserst aktive Satellitenposition ein, organisierte Wanderwochen und internationale Tagungen zum Schutz des Alpenraums.

Für die basisdemokratischen Entscheidungsprozesse fehlte ihm die Geduld. Man könnte ihn vielleicht als kollektiven Individualisten charakterisieren. Und so wichtig ihm die WOZ auch war, als Plattform und linke Stimme, wahrte er doch Distanz. Im privaten Kreis kommentierte er manche ihrer Auswüchse lakonisch oder mit freundlichem Spott, blieb aber unerschütterlich loyal. Nie hätte er einen Primeur in einer anderen Zeitung veröffentlicht. Als in den siebziger und achtziger Jahren die linken und alternativen Zeitungen eine nach der anderen eingingen, mahnte er uns, die WOZ werde nur überleben, wenn sie sich nicht am freien Markt, sondern an politischen Bewegungen orientiere.

Jürg stammte aus einer Lehrerfamilie. Urgrossvater, Grossvater, Vater, Bruder und Schwester, Nichte und Grossnichte: alles LehrerInnen. Dass seine Recherchierkurse bei Radio, Fernsehen und Zeitungsverlagen so hoch im Kurs standen, lag aber nicht nur daran, dass er ein ausgezeichneter Didakt war. Jürg vermittelte auch eine Haltung und eine Berufsethik.

Im Innersten war Jürg einer, der die Dinge zum Besseren wenden wollte. Er analysierte Entwicklungen mit grossem politischem Gespür, sah, wo man ansetzen musste, um etwas zu verändern. Er mischte sich ein, mit Recherchen, kollektiven Projekten und Kampagnen. Unmöglich, alles aufzuzählen, was er angerissen und immer mit grosser Konsequenz durchgezogen hat. Dabei konnte er auf ein vielfältiges Netz von Freunden und Mitstreiterinnen zählen, die er mit seiner Begeisterungsfähigkeit ansteckte. Er war immun gegen Starrummel, hilfsbereit, bescheiden, teilte die Lorbeeren grosszügig mit anderen – und man konnte unglaublich viel von ihm lernen.

Zum Glück für diesen umtriebigen Aktivisten trat schon früh ein ruhender Pol in sein Leben. Mitte der siebziger Jahre lernte er Ursula Bauer kennen, sie wohnten zusammen in einer WG und unternahmen Ausflüge in die Berge. Ob sie jetzt eher dreissig, wie Ursi meist sagte, oder doch schon vierzig Jahre zusammen waren, wie Jürg stolz meinte, bleibt ungeklärt. Schliesslich waren Zweierkisten damals gar nicht angesagt, galten als miefig und bürgerlich.

Vor zwanzig Jahren begannen Ursi und Jürg, zusammen thematische Wanderbücher zu schreiben; schliesslich widmeten sie dieser Leidenschaft fast ihre ganze Zeit. Nur wer die Bücher nicht gelesen hat, mag meinen, das sei eine Abkehr vom Politischen gewesen. Denn sie erhellen politische, historische, kulturelle Zusammenhänge und vermitteln, was ihnen wichtig war: dass man die Infrastruktur stärkt, das lokale Gewerbe unterstützt. Diese Bücher – und die gemeinsame, gleichberechtigte Arbeit an ihnen – sind ein Gesamtkunstwerk, es verbindet das Private, das Sinnliche und den Genuss mit politischem und ökologischem Engagement.

Ursi und Jürg hatten eine Arbeitsteilung: Politisch waren sie sich meist einig, aber der Aktivismus war Jürgs Sache. Die Lektüre war an sie delegiert, Jürg hatte nie Zeit für Belletristik. Auch die vielen abonnierten Zeitungen las er kaum. Er blätterte im Schnelldurchlauf, prägte sich die Informationen ein – sein Gedächtnis war unglaublich genau – und archivierte die Artikel zu seinen vielen Interessengebieten. Einen Luxus haben die beiden sich und anderen immer schon gegönnt: Sie luden Freunde und Kolleginnen zum Essen ein, und Jürg kochte mehrgängige Menüs. Da gab es frische Ravioli oder Wachteleier, Leber und Hirschwürste von Renato Giovanoli aus Maloja, im Herbst schickte Renato einen Gamsrücken frisch von der Jagd. Auch der Weinkeller war mit Sorgfalt bestückt, zu jeder Flasche gab es eine Geschichte. Diese Tischrunden an der Zürcher Weinbergstrasse waren legendär. Dort wurde politisiert und getratscht, neue Projekte nahmen Gestalt an und gelungene wurden begossen.

Ich habe mich oft gefragt, woher Jürgs Leidenschaft für das Engadin und das Bergell kam. Wenn er erzählte, schien es, er kenne dort jeden Weg, jeden Stein und jeden Grashalm. Über die Politik und Geschichte Graubündens und seiner Täler wusste er besser Bescheid als viele Einheimische. Nach dem Gespräch mit Jürgs Schwester ahne ich, wo diese Liebe ihre Wurzeln hatte. Als Kind war er in den Ferien bei seiner Grosstante Paula und ihrem Mann, Onkel Toni, der in Samedan Bahnhofsvorstand war. Auch später verbrachte er mit seinen Eltern jedes Jahr ein paar Tage dort. Und um diesen Onkel gab es eine Geschichte, die Jürg oft erzählte: dass Toni als junger Bursche dem sterbenden Maler Giovanni Segantini Medikamente auf den Schafberg bringen musste, aber zu spät kam.

In den Geschichtsbüchern steht nur, dass Segantinis Sohn, seine Frau und ein befreundeter Arzt bei ihm waren, als er nach heftigen Bauchschmerzen starb. Aber man kann sich unschwer vorstellen, welchen Eindruck dieser Onkel Toni und seine vergebliche Mission auf den kleinen Jürg gemacht haben müssen. «Voglio vedere le mie montagne» – ich möchte meine Berge sehen – sollen Segantinis letzte Worte gewesen sein.

Bei ihren gemeinsamen Wanderungen trug Ursi meist einen gelben Rucksack, den Jürg ihr geschenkt hatte. An seinem letzten Abend, kurz bevor er endgültig die Augen schloss, sagte Jürg zur Nachbarin, die an sein Bett getreten war: «Lueg döt, s’gäle Rucksäckli, d’Sunne!»

Auf Fussreisen

Neu an den Wanderbüchern von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht war, dass hier das Wandern nicht als Bergsport angepriesen wurde, sondern als Fussreise. Und neu war die wunderbare Zusammenarbeit zweier Persönlichkeiten, die aus unterschiedlichen Welten kamen und gemeinsam etwas Homogenes schufen. Nicht mit lauter Kompromissen, sondern indem sie zwei Horizonte zu einem grossen zusammenfügten.

Es gibt bezeichnenderweise wenige Buchpublikationen von Jürg, bei denen er allein als Autor aufgeführt ist. Das ist nicht nur bei den Wanderbüchern so. Er hat seine Arbeiten immer als Teamwork gesehen. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der auch in seinem Selbstbild derart sachlich und realistisch war wie Jürg. Die meisten Leute überschätzen oder unterschätzen sich; Jürg hatte ein gesundes Selbstbewusstsein und gleichzeitig eine sichere Selbsteinschätzung. Das hat es ihm ermöglicht, andere Leute ohne Angst zu fördern. Konkurrenzdenken, wie es auch bei linken Schreibenden vorkommt, war ihm fremd, Solidarität eine Selbstverständlichkeit.

Andreas Simmen

Andreas Simmen ist Programmleiter des Rotpunktverlags.

Besuch beim Neonazi

Mit den Wanderbüchern konnte ich nichts anfangen. Ich bedauerte, dass eines meiner Vorbilder sich ins Grüne verabschiedet hatte, als ich selbst in den Journalismus einstieg. So empfand ich das: «Wandern? Wer tut so was?» Hunter S. Thompson hatte sich die Rübe weggeballert, Frischknecht schrieb Wanderbücher: Es lag nun also an uns. Fair enough. Die Alten hatten ja auch genug geleistet. Was blieb, war, jedem seinen MAZ-Recherchekurs zu empfehlen. Dieser Kurs stach heraus, als ich 2003 als Volontär des «St. Galler Tagblatts» das Medienausbildungszentrum besuchte. Sein Wissen war eine Goldgrube. Und offensichtlich, das lernte ich damals auch, ging es ihm nicht einfach nur um Aufsehen. Auch davon könnten wir Jüngeren in Zeiten des Klickwahns etwas lernen.

Vor ein paar Jahren lernte ich einen Mann kennen, der Ende der neunziger Jahre die Druckerpresse des kleinen Familienbetriebs, in dem er arbeitete, dafür benutzte, Neonazimagazine zu produzieren. Darin wurde auch gegen Journalisten gehetzt, unter anderem gegen Frischknecht. Profi Frischknecht fand schnell heraus, wer sich hinter dem Magazin verbarg. Er klopfte bei der Kleinfirma an die Tür, stellte den Neonazi vor dem Chef zur Rede und sagte: «Entweder Sie überdenken Ihr Tun, oder ich publiziere einen Artikel über die Vorgänge in diesem Betrieb.» Der Chef gab – mit klarer Ansage – dem Neonazi nochmals eine Chance. Der Mann ergriff sie und stieg aus der Szene aus. Frischknecht verzichtete auf den Artikel.

Daniel Ryser

Daniel Ryser ist WOZ-Reporter.

Im Cincera-Archiv

Am 19. November 1976 gestand der Kassier des progressiven Demokratischen Manifests, im Auftrag von Ernst Cincera zu spionieren. Mit seiner Hilfe stellten tags darauf Jürg und andere Engagierte Akten aus dem Cincera-Archiv sicher und gingen an die Öffentlichkeit. Cinceras private Spitzelorganisation hatte «verdächtige Subversive» für Unternehmen, Schulen und Amtsstellen «überprüft». Damals lernte ich Jürg und sein journalistisches Handwerk kennen.

Cincera war nur einer von vielen «Subversivenjägern». Es gab eine ganze Szene reaktionärer Zirkel, die sich an der alten und der neuen Linken, an aufgeschlossenen Kirchenleuten und aufmüpfigen Frauen abreagierten und das Licht der Öffentlichkeit scheuten. Jürg schlug Ueli Haldimann, Peter Haffner und mir vor, diese Szene zu erforschen und ans Licht zu zerren. Daraus entstand 1979 das Buch «Die unheimlichen Patrioten». Wir hätten seinerzeit nicht gedacht, dass die verstaubte, leicht orientierungslose SVP Jahre später zur dominierenden politischen Kraft des Landes werden und die meisten Unheimlichen rechts überholen würde.

Peter Niggli

Peter Niggli ist Journalist und Autor.