Nationalliga B: Noch einen Kafi Luz

Nr. 49 –

Zurückversetzt in die achtziger Jahre: ein Sonntagnachmittag im altehrwürdigen Brügglifeld des FC Aarau, der «einzigartigen Antiquität im Schweizer Fussball» – und im legendären Restaurant Sportplatz.

  • Impressionen des Fotografen Milad Ahmadvand vom Spiel FC Aarau gegen FC Wohlen.

Vor fünfzig Jahren gab es Pläne, die Kleinstädte Aarau, Olten und Zofingen – das «goldene Dreieck» zwischen Zürich, Basel und Bern – zu «Aarolfingen», einer Grossstadt mit 330 000 EinwohnerInnen, zu fusionieren. Es war die Zeit, als die Industrie in dieser Gegend immer mehr an Bedeutung verlor und sich Aarau zu einem Dienstleistungszentrum entwickelte. Dann kam die Wirtschaftskrise. Und Aarau, erste Hauptstadt der Helvetik, ist Kleinstadt geblieben.

24 Minuten nur dauert die Zugfahrt von Zürich nach Aarau. Dessen Zentrum hat sich, seit es autofrei ist, in ein schmuckes Altstädtchen mit vielen Strassencafés verwandelt. «Sagt ja nicht, wie gut es sich in Aarau leben lässt», hat uns ein Aarauer mit auf den Weg gegeben: «Sonst kommen immer noch mehr Zürcher, und die Mieten steigen weiter.»

Anachronismus am Sonntag

Längst ist die Stadt Aarau an ihre Grenzen gestossen. Fusionen mit umliegenden Gemeinden jedoch sind bisher gescheitert. So auch jene mit Suhr. Ende November ist die Gemeinde aus dem Projekt «Gross-Aarau» ausgestiegen – derweil Ober- und Unterentfelden sowie Densbühren weiter mitmachen.

Dabei sind es vom Aarauer Bahnhof zu Fuss nicht einmal zehn Minuten bis zur Suhrer Gemeindegrenze. Auf der gegenüberliegenden Seite der Altstadt führt ein schöner Spazierweg dem Stadtbach entlang, vorbei an ehemaligen Fabrikantenvillen – und schon befinden wir uns auf Suhrer Boden: vor dem Restaurant Sportplatz, gleich neben dem Stadion Brügglifeld.

Zwei Stunden vor Beginn des Kantonsderbys gegen den FC Wohlen sitzen an diesem Sonntagnachmittag bereits einige hartgesottene Fans mit ihren schwarz-weiss-roten FC-Aarau-Schals an den Holztischen vor der Beiz. Neben dem einstigen Stall werden Cervelats auf die Feuerstellen gelegt, dazu gibt es Hörnli. Und auch in der rustikalen Beiz sind die Tische schon gut besetzt, während auf dem Bildschirm ein Super-G-Skirennen der Frauen läuft.

Immer mehr Leute treten in die warme Stube, derweil auch in der eisigen Kälte draussen vor der Tür eine recht angeheiterte Stimmung herrscht. Erstaunlich, denkt sich der Reporter: Eben noch war man im hochmodernen Hauptstadtbahnhof, und nun wähnt man sich plötzlich weit weg, irgendwo auf dem Land.

Im Restaurant Sportplatz gibt es keine Berührungsängste. Zumindest nicht in den Stunden vor und nach einem Match. Männer mit Böhse-Onkelz-Jacken sitzen Schulter an Schulter an einem Tisch mit linksalternativen Punks. Derweil balancieren die beiden Kellnerinnen in bewundernswerter Virtuosität immer wieder schwer beladene Tabletts mit Kafi-Luz-Gläsern durch das Gedränge.

Seit bald hundert Jahren wird auf dem Brügglifeld Fussball gespielt – und fast ebenso lang in dieser Beiz gewirtet. Traumwandlerisch bewegt sich hier fast jeder und jede, Sonntag für Sonntag, und manchmal auch montags. Es ist ein über Jahrzehnte eingeübtes, generationenübergreifendes kollektives Ritual, das sich hier abspielt – anders lässt sich die Selbstverständlichkeit kaum erklären, in der all die Leute ein- und ausgehen. Betritt ein neuer Gast das Lokal, weht kalte Luft in die alkoholgewärmte Gesellschaft – und mit ihr, von den Stadionboxen, schwere Klangwolken mit Mainstreamrock aus den achtziger Jahren.

Im Stadion selbst, dieser gemäss Vereinswebsite «einzigartigen Antiquität im Schweizer Fussball», deren Haupttribüne mit ihrem schräg in den Himmel ragenden Dach an eine halb geöffnete Pralinenschachtel erinnert, wird das Gefühl, mindestens dreissig Jahre zurückversetzt zu sein, gar noch zunehmen. Als wäre die Zeit vor dem Berliner Mauerfall stehen geblieben – und mit ihr auch die fast schon sakral anmutende Atmosphäre im alten Männerpissoir.

Pünktlich um 15 Uhr, nachdem die Speakerin zu einer solidarischen Schweigeminute für die Mitglieder des brasilianischen Fussballvereins Chapecoense gebeten hat, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, ist für einige Momente kaum ein Laut zu hören. Währenddessen schimmert vom Bierstand am oberen Rand der Gegentribüne ein trübes Lichtlein aus dem Nebel. Nach dem Pfiff aus der Schiedsrichterpfeife – schneidende Zäsur mitten in die grosse Stille – entfaltet die Fankurve ein grosses schwarz-weiss-rotes Transparent mit dem Konterfei des Wappentiers, eines Adlers: «30 Jahre Fanclub Adler 86. Uf dinere Siite».

Denkmalschutz im Herzen

1 : 0 gewinnt der FC Aarau an diesem Nachmittag. Dieser Traditionsklub, der 1985 Cupsieger und 1993 Schweizer Meister wurde, galt lange als der «FC Unabsteigbar». Bis er 2010 ab- und 2013 wieder aufstieg – und seit 2015 wieder in der Nati B spielt.

Wenige Minuten nach Spielschluss kursieren in der Beiz bereits wieder die Kafi-Luz-Tabletts – und grosse Teller mit Cordons bleus, für die die Beiz weitum bekannt ist. Draussen hat es eingedunkelt, und auf dem Bildschirm leuchtet der Teletext mit weiteren Spielresultaten. Das Ritual ist in vollem Gang. Nur: wie lange noch? Die Baubewilligung für ein Super-League-taugliches Stadion im Industriequartier Torfeld Süd liegt längst vor. Auch hat das Bundesgericht inzwischen alle Beschwerden gegen das neue Stadionprojekt abgewiesen. Weil nun aber vor kurzem durchgesickert ist, dass das Projekt der Bauherrin HRS Real Estate AG um bis zu fünfzehn Millionen Franken teurer als geplant ausfallen könnte, droht eine erneute Abstimmung: dann nämlich, wenn die Stadt Aarau über sechs Millionen Franken mehr als budgetiert beisteuern müsste. Das heisst: Frühstens kann das neue Stadion 2020 eröffnet werden.

Danach soll das Brügglifeld abgerissen werden und einer Wohnüberbauung weichen. Denkmalgeschützt ist das Bauwerk mit dem «nostalgischen Charakter einer untergehenden Epoche» (Pedro Lenz) nicht. «Aber doch», sagt ein langjähriger Fan, «denkmalgeschützt in meinem Herzen. Noch einen Kafi Luz?»

Hiermit beschliessen wir unsere Serie mit Reportagen aus den zehn Orten, an denen 2016/17 Fussball in der Nationalliga B (fälschlicherweise auch Challenge League genannt) gespielt wird.