Auf der Gasse: «Dann haut es ihnen die ­Sicherung raus»

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Die Basler GassenarbeiterInnen schlagen Alarm: Immer mehr Menschen mit schweren psychischen Problemen landen auf der Strasse. Und sogar von dort sollen sie vertrieben werden.

Einfach zuhören, Tröstliches sagen, Tipps für den Umgang mit der Bürokratie geben: Yvonne Bürgin, Kogeschäftsleiterin des Vereins Schwarzer Peter, am Basler Claraplatz.

Claraplatz Basel, vier Uhr nachmittags. In der Sonne liess sich die Kälte noch ignorieren, aber nun liegt die Tramhaltestelle schon im Schatten. Ein Mann, Mitte vierzig, steht an der Haltestelle, aber er wartet nicht aufs «Drämmli», er ist oft hier am Feierabend. Er trägt Piercings und eine schwarze Mütze, trinkt das schaurig-süsse Cidergetränk Somersby und stellt sich als Thomas Z.* vor. Früher spielte er mal in einer Band – Hardrock, New Wave, Punk. Heute arbeitet er auf dem Bau und ist FC-Basel-Fan. Was dazwischen passiert ist, tönt er nur kurz an: Er habe in schwierigen Zeiten gesteckt. «Da haben mir die Leute vom Schwarzen Peter sehr geholfen.»

Die GassenarbeiterInnen vom Verein Schwarzer Peter gehen mit einem anderen Blick durch die Stadt am Rhein. Sie kennen die Orte, die sie abklappern müssen – sie sehen nach, ob auf der kleinen Wiese direkt an der Strasse noch immer jemand zeltet, drehen ihre Runde um den Claraplatz. Die Gespräche dort drehen sich um Probleme mit der Sozialhilfe, der Wohnung – oder mit der Exfreundin. Die GassenarbeiterInnen vom Verein Schwarzer Peter hören zu, sagen etwas Tröstliches oder geben einen Tipp zum Umgang mit der Bürokratie.

Nach 72 Stunden raus

Aber sie machen sich auch Sorgen: In letzter Zeit seien es immer mehr Leute, die mit schweren psychischen Problemen auf der Strasse landeten. Früher habe die Psychiatrie diese aufgefangen, aber heute würden die Menschen damit alleingelassen. Eine Rolle spielt dabei das 2013 eingeführte neue Erwachsenenschutzrecht. Es ist darauf ausgelegt, die Selbstbestimmung von Personen zu wahren, selbst dann, wenn sie in einer psychisch schwierigen Lage stecken. Wer nicht sich oder andere gefährdet, muss einer psychiatrischen Einweisung freiwillig zustimmen – andernfalls wird die Person nach maximal 72 Stunden wieder entlassen.

«Das ist ja so weit positiv», sagt Yvonne Bürgin, Kogeschäftsleiterin des Schwarzen Peters, «früher wären die Leute jahrelang mit Zwangsmedikation in der Psychiatrie verschwunden.» Aber nun landeten viele nach der ambulanten Betreuung direkt wieder auf der Gasse. Das bekommen niederschwellige Anlaufstellen wie der Schwarze Peter zu spüren. «Die Leute nehmen dann bei uns viel Raum ein, brauchen viel Aufmerksamkeit.» Wenn sich zum Beispiel jemand, der mit einer Psychose kämpft, im Büro des Schwarzen Peters nackt auszieht oder sehr aggressiv wird, macht sich Überforderung breit. Die SozialarbeiterInnen haben deshalb im letzten Jahr extra eine zusätzliche Schulung absolviert.

Aber was war zuerst da – das Leben auf der Gasse oder die psychischen Probleme? Bürgin arbeitet seit dreissig Jahren im niederschwelligen Bereich als Sozialarbeiterin. Sie beobachtet zunehmend, wie sich der soziale Abstieg «blitzschnell» vollziehen kann. Auch die Suchterkrankungen gehen meist mit einer Doppel- oder Mehrfachdiagnose von psychischen Problemen einher. Aber nun sind es immer mehr auch Leute aus der unteren Mittelschicht, die sich vorher nie mit derartigen Problemen konfrontiert sahen und damit nie gerechnet hätten. Ein Schicksalsschlag wie der Verlust eines geliebten Menschen kann ausschlaggebend sein. «Auch der zunehmende Leistungsdruck ist enorm spürbar», sagt Bürgin. «Gerade bei Menschen über fünfzig, die aus dem Arbeitssystem rausfallen.» Die Kündigung, der Gang zum Arbeitsamt, dann folgen auf die vielen Bewerbungen genauso viele Absagen. Viele schämen sich, um Hilfe zu bitten, es gibt Streit in der Familie, Trennungen. Nach dem Arbeitslosengeld die Sozialhilfe. «Das ist der Moment, an dem es vielen die Sicherung raushaut», so Bürgin. «Sie müssen die Wohnung aufgeben, weil sie zu teuer ist, der Mann oder die Frau läuft weg – dann geht unter ihnen eine Tür auf, sie sind wie im freien Fall.»

Die Betroffenen, die dann den Schwarzen Peter aufsuchen, hätten eine grosse Wut. Yvonne Bürgin kann das verstehen, aber es macht ihre Arbeit sehr anspruchsvoll. Kogeschäftsleiter Tobias Hochstrasser fügt hinzu: «Der soziale Abstieg schlägt jedem auf die Psyche. Man verliert sein soziales Umfeld, vereinsamt, macht sich Selbstvorwürfe, fühlt sich als Versager. In dieser Negativspirale sehen viele nur noch schwarz.»

Wenn der Schwarze Peter seine Türen öffnet, stehen die Leute meistens schon Schlange. Es gibt einen Computerraum samt Kopierer, warme Kleidung, Schokolade und warme Getränke. Da ist die alte Frau, die sich mit zittrigen Händen heisses Wasser in ihre Tasse schenkt. Der etwa vierzigjährige Mann, der den Akku seines Mobiltelefons auflädt. Die Frau, die einer der Gassenarbeiterinnen von ihrem Vorstellungsgespräch erzählt. Sie hat keine Wohnung, aber das hat sie bei ihrer Bewerbung besser nicht erwähnt. Auch nicht, dass sie bereits seit mehreren Jahren keine Arbeit hat. Armut oder Obdachlosigkeit sieht man nicht. Den meisten Menschen, die im Schwarzen Peter aufkreuzen, würde man bei einer zufälligen Begegnung nicht anmerken, dass sie kein Zuhause haben.

400-mal der gleiche Wohnsitz

Die Gentrifizierung, die in Basel um sich greift, macht die Wohnungssuche für Leute mit Sozialhilfe nicht einfacher. Nur wenige Wohnungen sind bezahlbar, zudem bevorzugen die VermieterInnen eher eine andere Klientel. Das Büro des Vereins Schwarzer Peter liegt mitten im St. Johann, einem der «aufgewerteten» Basler Trendquartiere. Pro Wintertag besuchen 80 bis 150 Personen den Verein. Wer seinen Lebensmittelpunkt in Basel, aber keinen festen Wohnsitz hat, kann seine Meldeadresse über den Schwarzen Peter laufen lassen. Die Zahlen steigen: Rund 400 Personen sind momentan auf die Adresse angemeldet, 2010 waren es noch 213.

Wie viele Menschen leben in der Schweiz auf der Strasse? Wie viele kommen mal hier, mal dort unter, bei Bekannten und Verwandten, weil sie ihre Wohnung verloren haben? Wie viele kämpfen dabei mit psychischen Problemen? Es gibt kaum Antworten auf diese Fragen – und schon gar keine genauen Zahlen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) führt keine Daten zur Wohnungslosigkeit. Menschen in dieser Situation fallen durchs Raster, wenn die Befragungen per Telefon an die Meldeadresse stattfinden. Zwar gibt das BFS Statistiken zu Armut heraus (vgl. «Armut in der Schweiz» im Anschluss an diesen Text), aber Obdachlosigkeit ist nur eine Facette. Vom Working Poor bis zur alleinerziehenden Mutter, von der prekarisierten Studentin bis zum Geflüchteten, die verschiedenen Gesichter von Armut in der Schweiz lassen sich schwer unter einem Deckel zusammenfassen.

Kurz vor 17 Uhr, vor der Gassenküche in der Kleinbasler Altstadt. Bereits eine Handvoll Leute wartet vor dem Eingang, ältere und jüngere. Hier trifft der junge Kokser auf die Frau im Grossmutteralter in rosaroter Bluse, die Haare hübsch zurechtgemacht. Auf dem Menüplan in der Gassenküche stehen Rehpfeffer, Rotkraut und Spätzli. Dazu gibt es Tee oder Kaffee. Die Gassenküche füllt sich zügig, bald ist kaum mehr ein Platz frei. Es ist dennoch ruhig, fast ein wenig bedrückt.

Doch das bleibt nicht jeden Tag so: Das Personal der Gassenküche Basel beobachtet dieselbe Entwicklung wie die Leute vom Schwarzen Peter. Für die Leiterin Brigitte Tschäppeler ist die Situation bald nicht mehr tragbar. Erhöhtes Aggressionspotenzial, Menschen in akutem Verfolgungswahn oder Leute, die dauernd stören und andere beleidigen – die Gassenküche müsse sehr viel an psychischen Problemen auffangen. «Bis zu einem gewissen Limit ist die Toleranz natürlich da», sagt Tschäppeler, «und ein bisschen spinnen dürfen wir ja alle.» Aber als niederschwellige Institution gehöre die Gassenküche zu den Ersten, die die Veränderungen auf der Strasse spürten. «Es gibt nicht mehr psychische Erkrankungen, aber sie sind sichtbarer geworden.» Zwar könne die Gassenküche als letzten Ausweg ein Hausverbot aussprechen, aber wo sollten die Leute denn sonst hin?

Weg vom Claraplatz?

Bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel sieht man kein Problem. Man versuche, für alle PatientInnen eine Nachbetreuung zu organisieren, sagt CEO Anne Lévy. Letztlich gehe es darum, die Leute möglichst bald wieder in den Alltag zu integrieren. «Wir weisen niemanden ab, der eine Behandlung braucht», so Lévy. «Aber Patienten, die keine Behandlung wollen, sperren wir natürlich nicht ein.» Die meisten kämen ohnehin freiwillig.

Oftmals schienen aber genau bei jenen Personen alle Stricke zu reissen, die durch ihre schweren psychischen Probleme Mühe hätten, Hilfe anzunehmen, beobachtet Eveline Bohnenblust, Sprecherin des Gesundheitsdepartements, Abteilung Sucht. Oder bei jenen, die für sich selbst andere Lösungen bevorzugten – lieber unabhängig auf der Strasse leben als zum Beispiel im betreuten Wohnen. «Dadurch ist das Personal in den Anlaufstellen natürlich sehr gefordert», so Bohnenblust. «Spezielle Weiterbildungen im Bereich Psychiatrie sind wichtig.»

Bei der Sozialhilfe ist man daran, «die Fakten zu prüfen und die Situation zu analysieren», so Amtsleiterin Nicole Wagner. Möglicherweise ergäben sich daraus «handlungsleitende Massnahmen», für die es aber wiederum einen politischen Willen und entsprechende Unterstützung brauche.

Ob es diesen politischen Willen gibt, ist allerdings fraglich. Ende November machte der Treffpunkt beim Claraplatz Schlagzeilen: «Randständige sollen vom Claraplatz verschwinden», titelte die Gratiszeitung «20 Minuten». Die CVP-Grossrätin Pasqualine Gallacchi reichte einen Vorstoss ein, um für die Leute vom Claraplatz ein «Alkistübli» einzurichten. Was auf den ersten Blick gütig wirken mag, erscheint auf den zweiten schal und auf den dritten zynisch: Viele PassantInnen fühlten sich gestört durch die Leute am Claraplatz, sagte Gallacchi gegenüber SRF. Auch Eigeninteresse ist wohl im Spiel: Die CVP-Politikerin ist Geschäftsleiterin der Greifen-Apotheke, die gleich um die Ecke an der Unteren Rebgasse liegt.

Thomas Z. kann den Vorstoss nicht verstehen. «Hier wird es halt schon mal ein bisschen lauter», sagt er. «Aber das ist doch nicht so schlimm.» Auch auf längere Sicht leuchtet ihm das Vorhaben nicht ein: «So verschieben sich die Leute einfach woanders hin. Das ändert ja nichts.» Auf dem Claraplatz wird es bald dunkel, die Kälte durchdringt alles. Thomas hat übrigens Lotto gespielt – falls er abräumt, will er einen grossen Teil davon dem Schwarzen Peter schenken.

* Name der Redaktion bekannt.

Armut in der Schweiz

Sie ist in der Schweiz kaum sichtbar, am ehesten noch an Treffpunkten wie dem Claraplatz. Aber dennoch ist Armut überall, sie muss überall sein: Denn jede achte Einwohnerin, jeder achte Einwohner im laut dem «Global Wealth Report» der Credit Suisse reichsten Land der Welt ist arm oder armutsgefährdet – insgesamt über eine Million Menschen. Dies zeigt eine Studie des Bundesamts für Statistik von 2014.

Während zur Jahrtausendwende die Ungleichheit zwischen den Reichsten und den Ärmsten in der Schweiz abgenommen hatte, ist sie seit der Finanzkrise wieder angestiegen. Das reichste Prozent besitzt im Moment etwa 25 Prozent des landesweiten Vermögens.