Türkisches Tagebuch: Schneeweisser Schlaf

Nr. 2 –

Ece Temelkuran über die türkische Verfassungsreform

In der Türkei schneit es derzeit heftig; das ist alles, was man zu wissen braucht. Wer die genaue Schneemenge in Erfahrung bringen möchte, wissen will, wie hoch die Schneehügel an den Strassenrändern sind oder wie entzückend und verheerend zugleich das viele Weiss ist, darf sich über die ausschweifende Berichterstattung der grossen türkischen Medien freuen. Sie werden offenbar von TeenagerInnen betrieben, die ihre Instagram-Accounts mit Schneebildern vollstopfen.

So reizend sie auch sein mag – die Schneebegeisterung der Medien erinnert an den süssen Schlaf, in den man kurz vor dem Erfrieren verfällt. Als würde eine Stimme von oben flüstern: «Schliess deine Augen, und füge dich deinem Schicksal, dann ist alles schnell vorüber.» Dies ist gewiss wahr. Wer sich in diesen Tagen schlafen legt, wird die Türkei am nächsten Morgen nicht wiedererkennen.

9. Januar: In dieser historischen Nacht – und während es draussen weiterhin schneit – beginnt das türkische Parlament mit der Abstimmung über eine Verfassungsreform, die das Land in ein «türkisches Präsidialsystem» verwandeln soll. KritikerInnen nennen es zu Recht das «Regime des Sultans».

Die Verfassungsänderung gewährt Präsident Recep Tayyip Erdogan praktisch uneingeschränkte Macht. Das Präsidentschaftsamt wird zu den repräsentativen zugleich Regierungskompetenzen erhalten. Der Präsident ist künftig nicht mehr gezwungen, die Verbindungen zu seiner Partei zu kappen. Das Ministerpräsidentschaftsamt wird hingegen abgeschafft, weil der Präsident selbst dessen Befugnisse übernimmt. Da Erdogan bereits heute praktisch vollumfängliche Verfügungsgewalt besitzt, lässt sich erahnen, wie dieses neue System aussehen wird.

Mit dem neuen Regime kann der Präsident zweimal fünf Jahre lang regieren. Somit bleibt letztendlich Erdogan bis 2029 unangefochtenes Staatsoberhaupt.

Während der ersten, eigentlich geheimen, Abstimmungsrunde spionieren AKP-Abgeordnete einander aus. Für die Abstimmung werden farbige Chips verwendet; weiss für «Ja», grün für «Nein». Viele Abgeordnete präsentieren einander ihren weissen Chip, bevor sie ihn in einen Umschlag legen. Die ParlamentarierInnen wollen sichergehen, dass alle mitbekommen, dass sie Erdogans Wünsche befolgen. Das Parlament kommt einem Kindergarten ohne jegliche Manieren gleich.

Die Abgeordneten der Opposition versuchen derweil, das illegale Vorgehen zu unterbinden, indem sie es dokumentieren. «Im Parlament können wir nichts mehr tun. Jetzt liegt alles in den Händen der Bevölkerung», sagt ein sozialdemokratischer Abgeordneter in einem Video, das er mit der Periscope-App live im Netz sendet.

Und vor dem Parlamentsgebäude protestieren die GegnerInnen des Regimewechsels – durchnässt von Wasserwerfern, Opfer von Polizeigewalt.

Der Trubel endet mit der Auszählung der Stimmen. Die Regierung bringt es gerade einmal auf 338 Ja-Stimmen. Um die Reform voranzutreiben, waren mindestens 330 nötig. Elf Abgeordnete – unter ihnen auch die beiden HDP-Vorsitzenden – befinden sich im Gefängnis und konnten nicht abstimmen.

Im Parlament beginnt jetzt ein Gesetzgebungsmarathon, der – so oder so – die Geschichte der Türkei für immer verändern wird.

Andererseits schneit es gerade! Für die grösste Zeitung des Landes sind «122 Zentimeter Schnee» das Highlight am 10. Januar. Welch grossartige Berichterstattung in diesen historischen Tagen – für alle, die nicht geschickt genug sind, die Höhe der Schneehügel vor ihrem Haus selbst zu messen und dennoch dringend präzise Angaben über das Wetter benötigen.

Die Türkei tritt in ihre wichtigste politische Phase ein – ohne freie Presse, mit Hunderttausenden politischen Häftlingen und einem Klima von Angst und Schrecken. Präsident Erdogan leitet gerade die entscheidenden Massnahmen ein, die ihn zum einzigen Menschen im Land machen, der etwas zu sagen hat.

Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird die Türkei einfach ihre Augen schliessen und in den süssen, schneeweissen Schlaf verfallen, dessen Lockruf am 9. Januar begann.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.