Syriens Rebellen: «Sie brauchen den Krieg»

Nr. 7 –

Kämpfer der Freien Syrischen Armee sehen in den Friedensverhandlungen von Astana eine reale Chance für ein Ende des Konflikts. Doch viele islamistische Einheiten denken nicht ans Aufhören. Es droht ein Krieg zwischen den Rebellengruppen.

«Die Fahrzeugkolonne von Dschabhat Fatah al-Scham kam um drei Uhr morgens wie aus dem nichts», sagt Abu Mussa, und seine Hände zittern dabei. «Mehr als fünfzig Dschihadisten stürmten unsere Basis, die an der Frontlinie mit dem syrischen Regime liegt.»

Der Kommandeur und seine elf Kämpfer von Dschaisch al-Mudschaheddin, einer Miliz der Freien Syrischen Armee (FSA), hatten gegen die Übermacht nichts auszurichten, die sie Ende Januar angriff. «Wir wurden gefesselt und bekamen Säcke über den Kopf.» Dann packten die Extremisten, die al-Kaida nahestehen, alles ein, was nicht niet- und nagelfest war. Sämtliche Waffen, Munition und Fahrzeuge verschwanden, aber auch Gaskocher, Stiefel, Uniformen und ein Kühlschrank. «Sie brachten uns dann an einen unbekannten Ort und sperrten uns dort zu zwölft in einer Toilette ein», erzählt Abu Mussa in einem Café von Antakya, der türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien.

«Sie bedrohten und verspotteten uns, ich dachte, wir werden jetzt erschossen.» Aber Abu Mussa und alle anderen kamen nach zwei Tagen frei. Allerdings existierte dann ihr FSA-Verband nicht mehr. Fatah al-Scham hatte gleichzeitig weitere Basen von Dschaisch al-Mudschaheddin im Norden Syriens angegriffen und dabei zwei grosse Waffenlager geplündert. «Ohne Waffen können wir nicht weitermachen», meint Abu Mussa resigniert, jedoch voller Zorn auf die Dschihadisten. «Wir bekämpfen einen Diktator namens Baschar al-Assad. In den Reihen seiner Gegner gibt es aber andere Diktatoren, die uns beherrschen wollen.» 2013 hatte Dschaisch al-Mudschaheddin als erste Rebellengruppe den sogenannten Islamischen Staat (IS) bekämpft und aus Aleppo vertrieben. Nun ist sie an al-Kaida gescheitert, der grossen Konkurrenz des IS.

Es war nicht das erste Mal, dass Dschabhat Fatah al-Scham, die früher Al-Nusra-Front hiess, andere moderate Rebellenmilizen vernichtete. «Das machen sie immer, sobald irgendeine Hoffnung auf ein Ende des Bürgerkriegs auftaucht», stellt Abu Mussa fest und zündet sich eine seiner selbstgedrehten Zigaretten an. «Sie brauchen den Krieg, denn sie wissen sehr gut, bei einer friedlichen Lösung haben sie keine Zukunft mehr.»

Minimale Ziele

Die Hoffnung, die auftauchte, kam mit Astana. In der Hauptstadt Kasachstans fand Ende Januar die erste von Russland, der Türkei und dem Iran getragene Friedenskonferenz statt, die nun in dieser Woche weitergeführt werden soll. Ziel ist es, die fragile Waffenruhe dauerhaft zu festigen, bevor über einen politischen Fahrplan für die Zukunft verhandelt wird. Das ist im Vergleich zu den in Genf von der Uno vermittelten Gesprächen minimalistisch. Doch dort stand immer zu viel gleichzeitig zur Debatte, sodass nie ein nennenswertes Ergebnis herauskam. In Astana scheint das nun anders zu werden. Zum ersten Mal sitzen Rebellen und Vertreter des syrischen Regimes gemeinsam am Tisch. Es ist eine neue Flexibilität erkennbar, die in erster Linie mit den Ereignissen in Aleppo verbunden ist. Nach dem Verlust der Stadt im Dezember musste die Opposition einsehen, dass sie gegen die Militärintervention Russlands chancenlos ist. Verhandlungen wurden unabdingbar, zumal sich die Rebellen auch auf die Türkei, ihren bisher wichtigsten Verbündeten, nicht mehr voll verlassen konnten. Ankara hat sich mit Russland und dem Iran arrangiert, um mit deren Erlaubnis die verhassten KurdInnen entlang der Grenze zu bekämpfen.

Für die Regierung in Damaskus war die Rückeroberung Aleppos zwar ein grosser Sieg, den sie propagandistisch ausschlachten konnte. Allerdings machte dieser nur umso deutlicher, wie abhängig das Regime vom Gutdünken Moskaus und Teherans ist. Die russische Luftwaffe und die Zehntausende von schiitischen Milizionären, die der Iran im eigenen Land, im Libanon, im Irak und in Afghanistan für Syrien rekrutierte, machen den grossen Unterschied aus. Ohne die Hilfe der beiden grossen Alliierten müsste Präsident Assad in wenigen Monaten abdanken und ins Ausland flüchten. Denn die syrische Armee ist durch Verluste und Deserteure signifikant dezimiert. Assad und seine Regierung haben den Interessen Russlands und des Iran zu folgen, die beide auf eine politische Lösung im seit sechs Jahren andauernden Bürgerkrieg drängen. Ihr Engagement in Syrien verschlingt täglich Millionen Franken.

Für die Führung von Fatah al-Scham sind die Gespräche in Astana ein Verrat an der syrischen Revolution. Die Al-Kaida-Gruppe ist ebenso von der Konferenz und der Feuerpause ausgeschlossen wie der stark in Bedrängnis gekommene IS. Als Terroristen sollen sie weiter bombardiert werden. Bei Fatah al-Scham ist man sich deshalb bewusst, dass die moderaten Gruppen sich zunehmend distanzieren, um nicht selbst zum Opfer im Kampf gegen den Terror zu werden. «Sie hätten Fatah al-Scham bestimmt irgendwann angegriffen, um ja nicht mit ihnen in einen Topf geworfen zu werden», meint Abu Ahmet al-Homsi, der gute Beziehungen zur Organisation unterhält. Er ist erst gestern aus Syrien in die Türkei nach Antakya zurückgekehrt. «Aber nun ist Fatah al-Scham ihnen zuvorgekommen.» Das sei ein logischer und notwendiger Schritt gewesen. Dass die Opposition gegen das Assad-Regime so verfeindet ist wie nie zuvor und möglicherweise gar ein Krieg zwischen den Rebellengruppierungen bevorsteht, ist ihm egal. Im Gegenteil: «Die Moderaten haben sich zu einem grossen Bündnis zusammengeschlossen, und das hat jetzt auch Fatah al-Scham gemacht», erklärt Homsi. «Besser konnte es nicht kommen.»

«Keine Kontakte ins Ausland»

Tahrir al-Scham heisst die neue Allianz. Fatah al-Scham hat sie mit fünf anderen Dschihadmilizen gegründet. Alle Einzelgruppen sollen sich aufgelöst haben. «Ihre jeweiligen Basen wurden zugunsten eines Hauptquartiers der Organisation aufgegeben und eine neue Führerschaft gewählt», so Homsi. Selbst Muhammad al-Dschaulani, der legendäre Anführer von Fatah al-Scham und einst Mitstreiter von IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi im Irak, taucht nicht mehr in der Führungsriege auf. Für Homsi ist das ein gelungener Schachzug. Denn so könne niemand mehr behaupten, al-Kaida würde einfach unter anderem Namen weiterbestehen. Damit entfalle auch der Vorwand von Russland und den USA, sie als Terroristen zu bekämpfen.

Der erneute Namenswechsel ist schon der zweite Versuch, alle Spuren der Verbindungen mit dem ehemaligen Netzwerk Bin Ladens zu verwischen. «Wir haben keine Kontakte ins Ausland und kämpfen nur für Syrien», versicherte am vergangenen Wochenende Haschim al-Scheich, der neue Führer von Tahrir al-Scham, in einer Videobotschaft. Nur: Er kämpfte mit al-Kaida im Irak, und das unter Abu Musab al-Sarkawi, der als «Schlächter» und späterer Gründer des IS bekannt wurde.

Homsi, der Fan der neuen Organisation, sieht für Tahrir al-Scham grosse Zeiten anbrechen. «Sie haben jetzt über 35 000 Kämpfer vereint und werden bald eine riesige Militäroperation starten, die ihnen die Kontrolle über grosse Teile Syriens bescheren wird.» Mit diesem Erfolg werde sich Tahrir al-Scham endgültig die volle Unterstützung der Bevölkerung sichern. «Geliebt werden sie eh schon von den meisten», glaubt Homsi.

Die Bevölkerung hat genug

Die neue, grosse Einigkeit zeigt allerdings schon Risse. Am Montag gab es in der Provinz Idlib heftige Gefechte mit Dschund al-Aksa, einer Splittergruppe der Militärallianz, die gute Beziehungen zum IS unterhält. 69 Kämpfer wurden dabei getötet. Aber noch viel entscheidender: «Die Menschen haben die Schnauze voll», erzählt Muhammad Jussef. Er ist ein syrischer Journalist, der seit Beginn des Bürgerkriegs für internationale Medien aus Idlib und anderen Gebieten der Opposition berichtet. «Sie hassen alle bewaffneten Gruppen und besonders solche wie Tahrir al-Scham, auf die es Russland und die USA mit ihren Bombenangriffen abgesehen haben.» Am liebsten wäre es ihnen, die radikalen Islamisten würden abziehen. «Denn es sind überwiegend Zivilisten, die bei den täglichen Luftschlägen sterben», so Jussef weiter. «Gerade die russischen Kampfflugzeuge treffen oft zivile Ziele. Die Amerikaner zerstören dagegen meist präzise die Autos und Häuser, die sie zuvor ausgesucht haben.»

Zum täglichen Bombenterror auf Schulen, Hospitale und Verwaltungsgebäude würden die fatalen Lebensumstände kommen. «Es gibt kaum etwas zu essen», so der Journalist. «Der Strom fällt ständig aus, Wasser kommt nur alle paar Tage für wenige Stunden aus der Leitung, und Benzin ist so teuer, dass es sich normale Menschen nicht leisten können.»

Jussef kann die radikalen Islamisten auf den Tod nicht leiden und versteht nicht, warum man eben eine «goldene Gelegenheit» verstreichen liess. «Die Angriffe der Dschihadisten Ende Januar hätten die Russen und Amerikaner doch ausnutzen können», ärgert er sich. «Sie waren mit ihren Konvois unterwegs und hätten leicht aus der Luft beschossen werden können.» Unter dem Schutz von Luftangriffen hätten die moderaten Milizen mit Tahrir al-Scham aufräumen können. «Aber nein, nichts ist passiert, man hat die Dschihadisten einfach gewähren lassen», sagt Jussef frustriert. Nun gehe es weiter wie bisher, glaubt er. Lieber bombardiere und töte man ZivilistInnen. «Sehen Sie, in Idlib ist die Trefferquote von Kliniken viel höher als die von Militärbasen», fährt Jussef fort. «Deshalb muss man Krankenhäuser unterirdisch anlegen, aber die Hauptquartiere der Milizen nicht.» Am nächsten Tag wird der Journalist wieder über die Grenze nach Syrien fahren. Wohin, will er nicht sagen. «Ich muss weiter berichten», sagt er nur.

«Moderat sein ist schwer»

Abu Mussa ist derweil noch immer im Schockzustand nach dem Überfall auf seinen Posten der Dschaisch al-Mudschaheddin an der Frontlinie. Er weiss nicht, was er machen soll. Am liebsten würde er in die Provinz Idlib zurückgehen und gegen Tahrir al-Scham kämpfen. Aber er ist unsicher, welcher Gruppe er sich anschliessen soll. Vielleicht treiben seine Führer doch noch Waffen für ihn und seine Kameraden auf. Sein Hass gegen die Islamisten sitzt tief. Für ihn ist klar, dass es den Dschihadisten nicht um sein Land geht, sondern um die Errichtung eines islamischen Kalifats. «Bereits ganz am Anfang haben sie gesagt, sie müssten die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem befreien. Aber damit haben wir absolut nichts zu tun. Wir kämpfen nur für Syrien.» Abschliessend bemerkt er, wie einfach es sei, das Image des Islam zu verunglimpfen. «Moderat zu sein, ist dagegen sehr schwer geworden.»