Kleine Verwahrung: Der Prozess, reinszeniert

Nr. 16 –

Im Dezember wurde der WOZ vom Berner Obergericht der Zugang verwehrt, als sie über eine Verhandlung berichten wollte. Zu Unrecht, wie das Bundesgericht inzwischen entschieden hat. Der Prozess musste nun wiederholt werden. Die kafkaeske Geschichte einer «kleinen Verwahrung».

Ein Mittwoch Anfang April in Bern. Es ist ein Tag, der vermutlich in die Rechtsgeschichte eingehen wird. Ein Mann steht gleich zweimal vor Gericht. Am Morgen vor dem Berner Obergericht, am Nachmittag vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland.

Bereits im Dezember wollte die WOZ in diesem Fall eine Verhandlung vor Obergericht besuchen, wurde aber nicht zugelassen (siehe WOZ Nr. 50/2016 ). Es geht um einen Mann – wir nennen ihn Ralf Scherrer –, der 2005 wegen sexueller Handlungen mit Kindern verhaftet worden ist. Drei Jahre später wird er zu einer Haftstrafe von 35 Monaten verurteilt. Das Gericht schiebt jedoch die Haftstrafe zugunsten einer therapeutischen Massnahme auf (vgl. «Das Massnahmenrecht» im Anschluss an diesen Text). 2014 verlängert das Regionalgericht Bern-Mittelland die therapeutische Massnahme, die sogenannte kleine Verwahrung, um weitere drei Jahre.

Stephan Bernard, Scherrers Verteidiger, rekurrierte dagegen. Zweimal zieht er damit vors Bundesgericht – zweimal bekommt er recht. Das Obergericht ist also im Dezember gezwungen, den Fall neu zu verhandeln. Da aber sperrt es sich nun eben dagegen, Öffentlichkeit und Presse an der Verhandlung teilnehmen zu lassen. Deshalb zieht Bernard den Fall zum dritten Mal vor Bundesgericht. Anfang März hat das oberste Gericht entschieden: Die Verhandlung muss öffentlich sein. Das hat es in der Schweizer Rechtsgeschichte vermutlich noch nie gegeben: dass das Bundesgericht im selben Fall dreimal entscheiden musste – und dreimal zugunsten des Klägers. Bernard hat damit viel erreicht: Obergerichte dürfen künftig solche Fälle nicht mehr schriftlich abfertigen – sie müssen eine Verhandlung durchführen, den Weggesperrten wie den Gutachter mündlich befragen, und das Ganze muss öffentlich stattfinden.

Das Reenactement

Das Berner Obergericht ist also an diesem Mittwochmorgen Anfang April genötigt, sich schon wieder mit dem Fall Scherrer zu beschäftigen. Es wird eine offizielle Reinszenierung der Verhandlung vom Dezember. Die Stimmung ist leicht gereizt. Scherrer will nichts mehr sagen, da er schon mehrfach befragt worden sei und aus seiner Sicht alles gesagt sei. Ihn mache die präventive Haft einfach nur kaputt. Die übrigen Beteiligten bringen die Argumente vor, die sie schon im Dezember vorgebracht haben.

Es geht immer noch um die Frage, ob die Massnahme, die im Frühjahr 2014 verlängert wurde, rechtens ist – die drei Jahre werden in knapp einem Monat abgelaufen sein. Folglich ist Scherrer die vergangenen drei Jahre ohne rechtsgültigen Entscheid weggesperrt gewesen.

Nach der Verhandlung vom letzten Dezember hat das Obergericht entschieden, die Verlängerung sei korrekt gewesen. Es befand aber auch, der Vollzug müsse umgehend gelockert werden, damit Scherrer auf die doch irgendwann anstehende Entlassung vorbereitet werden könne.

Das ist inzwischen passiert; seit Anfang Jahr darf Scherrer regelmässig und unbegleitet in den Ausgang. Er ist nun auch allein zum Verhandlungstermin angereist. Im Dezember hatte ihn noch eine Polizeieskorte in Handschellen vorgeführt.

Am Mittag verkündet das Obergericht das Urteil. Es ist dasselbe, das es schon im Dezember gefällt hat. Anwalt Bernard sagt, er werde auch dieses Urteil ans Bundesgericht weiterziehen. Denn er will endlich wissen, ob dieses es für verhältnismässig hält, wenn eine «therapeutische Massnahme» drei- bis viermal so lange dauert wie die ursprünglich verhängte Haftstrafe.

Am Nachmittag dann geht es vor dem Regionalgericht weiter. Die Staatsanwaltschaft fordert im Namen der Vollzugsbehörde, die «therapeutische Massnahme» müsse bis mindestens Ende 2017 verlängert werden. Hätte am Morgen das Obergericht befunden, es sei nicht korrekt gewesen, dass Scherrer die letzten drei Jahre versorgt war, hätte die Verhandlung am Nachmittag keinen Sinn ergeben. Nur war vermutlich insgeheim allen klar, dass das nie passieren wird. Ausser Scherrer, der auf das Gegenteil gehofft hat, weil es ja um seine Freiheit geht. Sein Fall dürfte exemplarisch sein für viele, die zurzeit in der kleinen Verwahrung feststecken.

2006 kommt Scherrer erstmals ins Berner Massnahmenzentrum St. Johannsen, das heute Justizvollzugsanstalt heisst, aber eine relativ offene Institution ist. Scherrer hat ein impulsives Naturell, wehrt sich, schreibt viele Protestbriefe, gilt als aufsässig. Das führt dazu, dass er von einer Institution in die andere verschoben wird. Irgendwann landet er im Thorberg, einem geschlossenen Gefängnis.

2011 spitzt sich die Situation zu. Das Gericht, das damals die Verlängerung der Massnahme zu beurteilen hat, schreibt, Scherrer müsse zur Kenntnis nehmen, dass er «nicht sehr weit von einer Verwahrung entfernt» sei. Danach scheint es aber mit der Therapie besser zu laufen. Scherrer macht mit, setzt sich intensiv mit seinen sexuellen Übergriffen und seiner pädophilen Neigung auseinander.

Als 2014 die Verlängerung der Massnahme ansteht, wird er vom Zürcher Gerichtspsychiater Frank Urbaniok begutachtet. Urbaniok gilt als scharfer Psychiater und ist sicher keiner, dem man Kuscheljustiz vorwerfen könnte. Er stellt Scherrer eine gute Prognose, begrüsst zwar die Verlängerung der therapeutischen Massnahme, empfiehlt aber gleichzeitig, Scherrer solle in eine offene Anstalt verlegt und der Vollzug sukzessive gelockert werden. Nach Urbanioks Einschätzung ist Scherrers Rückfallgefahr «moderat», wenn er therapeutisch richtig auf die Freiheit vorbereitet würde. Die Vollzugsbehörde kümmert sich jedoch nicht um die Einschätzung des Psychiaters. Scherrer wird zwar verlegt, aber nicht in den offenen Vollzug – sondern in ein Regionalgefängnis, wo es keine Therapieangebote gibt. So vergeht ein ganzes Jahr ohne «therapeutische Massnahme».

Im Herbst 2015 schreibt Urbaniok eine weitere Stellungnahme. Er rät erneut, Scherrer solle in eine offene Anstalt verlegt werden, und empfiehlt, man solle endlich einen Therapie- und Vollzugsplan erstellen. Seiner Meinung nach müsste Scherrer wöchentlich zweimal Einzel- und einmal eine Gruppentherapie erhalten. Scherrer wird in jenem Herbst endlich wieder nach St. Johannsen verlegt. Eine adäquate Therapie erhält er aber immer noch nicht.

Im Juli 2016 schreibt Urbaniok erneut, es wäre gut, wenn nun endlich ein Vollzugsplan erstellt werden könnte, «der für 2017 eine Entlassungsperspektive formulieren» würde. Erst im September 2016 erhält Scherrer einen Therapieplan.

Während der Verhandlung befragt der Richter Scherrer. Er zitiert aus einem der letzten Gutachten, in dem steht, Scherrer benehme sich wie ein Langstreckenläufer, der auf der Strecke angerempelt werde, sich aber fange und erfolgreich weiterlaufe. Doch kurz vor der Ziellinie breche er ab, wende sich an den Wettkampfrichter, beschwere sich über die Rempelei und komme deshalb nicht ins Ziel. Der Richter fragt Scherrer, was er dazu sage.

Scherrer antwortet: «Das würde ich nicht tun, ich würde erst über die Ziellinie laufen und mich danach beschweren. Die Metapher hat einen Haken. Das Rennen verläuft von A nach B. Doch wenn ich kurz vor B bin, wird im letzten Moment das Ziel nach C verschoben. Wenn ich gar keine Chance habe, ins Ziel zu kommen, muss ich mich doch beschweren.»

Er sagt, er sei jetzt seit über elf Jahren präventiv weggesperrt. Er halte das nicht mehr aus, er gehe kaputt da drin, die Therapie im Vollzug bringe überhaupt nichts mehr. Er sei sehr wohl bereit, draussen weiter eine Therapie zu machen und an sich zu arbeiten. Man hört dem Mann den verzweifelten Zorn an. Der Staatsanwalt ist jedoch der Meinung, die Massnahme müsse zwingend verlängert werden, damit Scherrer therapeutisch auf die Freiheit vorbereitet werden könne. Das sei auch zum Schutz von Herrn Scherrer, denn wenn er rückfällig werde, drohe ihm die definitive Verwahrung.

Vollzugsbehörde im Bummelstreik

Bernard Rambert, der sich als zweiter Verteidiger des Falls angenommen hat, rechnet an der Verhandlung vor, dass sein Klient im letzten Jahr gerade mal 35 Stunden Einzeltherapie hatte, Gruppentherapie gab es nie. Rambert kritisiert, im Massnahmenvollzug gebe es offensichtlich keine Qualitätskontrolle. Niemand frage, was da eigentlich los sei, wenn jemand nach elf Jahren «therapeutischer Massnahme» noch immer nicht die richtige Therapie erhalten habe.

Verteidiger Bernard sagt in seinem Plädoyer, die Vollzugsbehörde mache doch einfach, was sie wolle. Sie setze sich über die Gutachten und Empfehlungen des Psychiaters wie des Gerichts hinweg, weil es Scherrer eigentlich verwahren wollte. Es sei nicht nachvollziehbar, was weitere siebeneinhalb Monate therapeutischer Massnahme bringen sollen, was nicht schon in den letzten elf Jahren hätte geschehen können. Bernard spricht davon, dass die Vollzugsbehörde im Bummelstreik sei und Dienst nach Vorschrift mache. Man könne nicht seinen Klienten dafür bestrafen, dass es die Behörden in den vergangenen Jahren versäumt hätten, ihn angemessen zu therapieren. Es liege nun am Gericht, ein Zeichen zu setzen und Stopp zu sagen.

Es ist schon spät. Das Gericht vertagt die Beratung, das Urteil werde schriftlich eröffnet.

Per Mail kommt am nächsten Morgen das Urteil: Die Massnahme wird nicht verlängert, Scherrer ist am 17. Mai freizulassen.

Weitere Texte zum Thema im Dossier Verwahrung unter: www.woz.ch/d/verwahrung.

Das Massnahmenrecht

Rechtlich gesehen existieren unterschiedliche Formen von Verwahrung:

Artikel 64 des Strafgesetzbuchs (StGB) regelt die eigentliche Verwahrung. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird. Die verwahrten TäterInnen sind für gewöhnlich in einer geschlossenen Strafanstalt untergebracht.

Artikel 59 StGB wird gerne als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Sie wird verhängt, wenn das Gericht StraftäterInnen für psychisch gestört, aber therapierbar hält. Es ordnet deshalb anstelle der Strafe, die relativ gering sein kann, eine «stationäre Massnahme» an, die in einem spezialisierten, offenen Massnahmenzentrum oder der Psychiatrie vollzogen wird. Die Massnahme muss alle fünf Jahre verlängert werden, was aber unbeschränkt geschehen kann.