«Huber contre Suisse»: «Die wollten mich regelrecht zu einer Falschaussage zwingen»

Nr. 34 –

Bis 1990 wurde in der Schweiz unzähligen Menschen die Freiheit entzogen, ohne dass die Zulässigkeit der Haft von unabhängigen RichterInnen überprüft wurde. Dass das heute als rechtswidrig gilt, ist auch Jutta Huber zu verdanken: Sieben Jahre zuvor wurde die damalige Prostituierte in einer Strafuntersuchung gegen Hells Angels wegen «versuchten falschen Zeugnisses» verurteilt.

In der Nacht auf Donnerstag, den 11. August 1983, wird in der Nähe von Hamburg ein Ehepaar von Polizisten aus dem Schlaf geklingelt. Auf die Frage der beiden, worum es gehe, antworten die Beamten: «Das wissen Sie selbst: um ihre Tochter.»

Herr und Frau L. wussten von nichts. Die damals 25-jährige Jutta Huber – den Nachnamen hatte sie von einem Schweizer, den sie ein Jahr zuvor geheiratet hatte – hatte ihre Eltern im Glauben gelassen, dass sie in Zürich als Kellnerin arbeite.

34 Jahre später wohnt Jutta W., wie sie heute heisst, am Rand eines Kleinstädtchens in der Innerschweiz. Eine überaus vitale, gastfreundliche Frau, die von sich selbst sagt, sie sei eine «totale Chaotin». Immer wieder hat sie ihren Wohnort gewechselt, dreimal geheiratet, den Nachnamen geändert. Ihren damaligen Beruf als Prostituierte hat sie längst aufgegeben. Heute arbeitet sie als Putzfrau.

An den Morgen des 11. August 1983 erinnert sie sich, als wäre es gestern gewesen. Jutta Huber war damals im Rahmen einer gross angelegten Strafuntersuchung gegen die Hells Angels ins Visier der Justizbehörden geraten: Innert weniger Stunden wurden in Hamburg und Zürich diverse Lokale, Wohnungen und Bordelle durchsucht. Huber erschien der Zürcher Justiz besonders interessant: Schon in Hamburg war sie in Kontakt mit den dortigen Angels gewesen. Und da die Klubs in Hamburg und Zürich befreundet waren, hatte sie schnell auch Kontakt zum Klub in Zürich bekommen.

Im Rahmen der koordinierten Polizeiaktionen waren am Mittwochabend in Hamburg sechs Hells Angels verhaftet worden. Am nächsten Morgen wurden im Grossraum Zürich, gestützt auf den Rechtshilfeverkehr mit der Staatsanwaltschaft Hamburg, neun weitere Klubmitglieder festgenommen. Bei den Hausdurchsuchungen stellte die Polizei neben schriftlichen Unterlagen auch Waffen, Munition und geringe Mengen an Betäubungsmitteln sicher; das Klublokal Easy Rider wurde geschlossen.

«Deutsch-schweizerischer Zuhälterring gesprengt», titelte die NZZ am Freitag, den 12. August 1983, noch bevor die Verdachtspunkte genauer untersucht worden waren.

Als Grund für die Aktion «Hamrich» mit gegen hundert Beamten der Kantons- und der Stadtpolizei Zürich sowie der Kantonspolizei Aargau äusserte die Bezirksanwaltschaft den dringenden Verdacht auf Zuhälterei und Kuppelei. Konkret ging sie davon aus, dass Mitglieder der Hells Angels «in einer professionell aufgezogenen Organisation» Frauen aus Deutschland nach Zürich gebracht und teils unter Gewaltandrohung zur «gewerbsmässigen Unzucht» angehalten, Scheinheiraten mit Schweizer Männern arrangiert und den Schutz, den sie den Frauen gewährten, mit einem beträchtlichen Teil des «Unzuchterlöses» finanziert hätten.

Alarm im Rotlichtbezirk

Jutta Huber begann 1976, in Hamburg anzuschaffen, kurz nach ihrem 18. Geburtstag. 1982 zog sie nach Zürich, wo sie ein gutes erstes Jahr verbracht habe: «Hamburg war viel härter. Da wurden wir ständig kontrolliert. Sobald sie wussten, dass da Frauen waren, die was mit dem Klub zu tun haben, hatten die ein spezielles Auge auf uns.» Die Zürcher Polizisten hingegen seien im Allgemeinen hochanständig gewesen: «Wir haben uns ja auch von Anfang an an die Vorschriften gehalten.»

Und dann: «Der grosse Hammer.» In der Nacht auf jenen 11. August sei sie auf Sauftour gewesen und habe im Auto eines flüchtigen Bekannten den Wohnungsschlüssel liegen lassen, erinnert sich Jutta W. Daraufhin übernachtete sie im Salon an der Langstrasse, wo sie mit drei Kolleginnen zusammenarbeitete.

«Es war ein schöner Sommertag», sagt sie. Kurz nach sieben Uhr morgens klingelte es an der Tür. «Die zwei von der Sittenpolizei haben nur gesagt: ‹Mitkommen!› Und auf meine Frage: ‹Wofür und wozu?›, sie: ‹Erzählen wir dir später.› Ich konnte nicht mal duschen und mir knapp noch was anziehen.»

Im Büro der Sittenpolizei erfuhr sie, dass der damalige Bezirksanwalt Dieter J. sie als Zeugin in der Strafuntersuchung gegen «Herrn K. aus Hamburg und Herrn B. aus Zürich» einvernehmen wolle. «Gleich am Anfang meinte der Untersuchungsbeamte, ich solle doch zugeben, dass K. mein Zuhälter sei.» Die Bezirksanwaltschaft stützte sich dabei auf Protokolle von überwachten Telefongesprächen zwischen Huber und K., die die Zürcher Behörden von ihren Hamburger Kollegen erhalten hatten. Aufgrund deren befand der Bezirksanwalt, Huber, die zunächst aussagte, K. nur namentlich zu kennen, habe ein falsches Zeugnis abgelegt – und liess sie verhaften.

Natürlich hätten sie telefoniert, sagt Jutta W.: «Wir waren ja neun Jahre zusammen.» Als sie in die Schweiz gezogen war, sei das auseinandergegangen: «Deswegen haben sie mich geholt, damit ich gegen K. aussage: dass er mich auf den Strich geschickt und die Heirat mit einem Schweizer vermittelt habe.» Dem sei aber nicht so gewesen. «Tatsache ist: K. und ich blieben Freunde.» Da habe er sie am Telefon schon mal gefragt, was sie grad so verdiene, und je nach Betrag gesagt: «Da kannst du ja grad noch eine Schicht anhängen.» Ein wirkliches Geschäftsinteresse aber habe er nicht gehabt. Und überhaupt: «Ich hab mir da so oder so nichts sagen lassen.»

Die Bezirksanwaltschaft wollte ihr keinen Glauben schenken. «Da haben sie mich immer und immer wieder bearbeitet und gesagt: ‹Aber das ist ein Zuhälter, und du kriegst Schläge, und da werden Frauen verkauft.›» Darauf habe sie immer wieder geantwortet, dass sie dazu nicht mehr sagen könne, als dass sie ihren Job jederzeit freiwillig ausgeübt habe. «Nach jeder Einvernahme beendeten sie die Unterhaltung mit dem Satz: ‹Na gut, in diesem Fall kannst du in deine Zelle zurück und darüber nachdenken.› Die wollten mich regelrecht zu einer Falschaussage zwingen.»

Am 19. August, nach acht Tagen, wird Jutta Huber aus der Haft entlassen. «Das waren verdammt lange Tage», sagt sie. Wieder in Freiheit, telefonierte sie zuerst mit ihrer Mutter – da erst habe sie erfahren, dass die Polizei in jener Nacht ihre Wohnung auseinandergenommen hatte. «Das Schlimmste für mich war, dass sie meinen Eltern so brutal an den Kopf geworfen haben, dass ich anschaffen geh. Ich konnte ihnen das nicht mal selber sagen.»

Wenige Tage später wird Jutta Huber erneut einvernommen: «Ich war wie vom Donner gerührt: Da haben sie mir doch tatsächlich das Telefongespräch mit meiner Mutter vorgespielt!» Ab da habe sie nach jedem Telefonat vor dem Auflegen gesagt: «So, ihr Arschlöcher, habt ihr auch alles gehört?»

Ein paar Tage später muss sie wieder beim Bezirksanwalt antraben. Diesmal für eine Gegenüberstellung mit Herrn B. Auch da habe sie der Bezirksanwalt zur Aussage zwingen wollen, dass B. sie mit Schutzgeld erpressen, und sie ihm Standgeld zahlen müsse: «Ja, ich kannte den, wir mochten uns. Abends hat er mal vorbeigeguckt. Aber der hat nie einen Rappen von mir gekriegt. Im Gegenteil: Wenn ich mal kein Geld hatte, hat er mir was gegeben.»

Und dann stehen eines Mittags noch einmal zwei Polizisten vor ihrer Tür: «Zuerst dachte ich, es sei eine ganz normale Einvernahme. Dass ich mich vor dem Amtsarzt ausziehen muss, haben sie mir nicht gesagt.»

Die Bezirksanwaltschaft ging davon aus, dass die Hells Angels «ihre» Frauen mit einer Tätowierung brandmarkten. Tatsächlich liessen sich damals einige Frauen den Namen jenes Hells Angel tätowieren, mit dem sie liiert waren. So auch Jutta Huber, die sich «Property of Blues», den Übernamen von K., auf den Bauch hatte stechen lassen: «Logisch hatte ich eine Tätowierung. Weil ich es wollte. Und nicht weil einer sagte: ‹So, du bist jetzt meine Frau und wirst angeschrieben.› Ich war sechzehn, hatte ein Faible für Tattoos – und K. war meine erste grosse Liebe. Mit Anschaffen habe ich da noch gar nichts zu tun gehabt.» Ihr werde heute noch schlecht, wenn sie daran denke, wie sie der Bezirksanwalt fragte: «Und? Was sagen Sie nun? Was soll diese Tätowierung auf Ihrem Bauch?» Heute geht Jutta W. davon aus, dass die Behörden schon vorher von dieser Tätowierung wussten: von einem ihrer Freier – oder einem Spitzel, der sich als Freier ausgab.

Jutta W. enerviert sich noch immer über die Behauptung der Untersuchungsbehörden, dass sie für Mitglieder der Hells Angels angeschafft habe: «Ich und meine Freundinnen arbeiteten selbstständig. Wir hielten zusammen, verdienten gutes Geld und genossen das Leben. Die Hells waren unsere Freunde. Falls wir mal Probleme mit einem Freier hatten, mussten wir nur pfeifen – schon waren sie zur Stelle. Aber Zuhälter? Nein, dafür sind wir zu stolz gewesen.»

Bezirksanwalt J. jedoch glaubte, genug Indizien zu haben, um Huber im Oktober 1984 beim Bezirksgericht wegen falschen Zeugnisses anzuklagen. Dabei hatte er wohl nicht mit der Beharrlichkeit des Anwalts gerechnet, den sie für ihren Fall gewinnen konnte: Edmund Schönenberger, Mitgründer des Zürcher Anwaltskollektivs, machte vor Gericht eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend. Jutta Huber sei in U-Haft genommen worden, ohne dass der Fall zuvor von einem unabhängigen Haftrichter geprüft worden sei. Zudem sei sie niemals «gültig gerufen» worden, um als Zeugin zu erscheinen, was ihr Zeugnis unzulässig mache.

Auftritt Edmund Schönenberger

Das Bezirksgericht bestätigte diesen letzten Punkt und sprach Jutta Huber am 10. Januar 1985 frei, worauf die Staatsanwaltschaft Berufung beim Obergericht einlegte. Dieses wollte auch in diesem letzten Punkt keine Rechtswidrigkeit sehen: Das Abhören der Telefongespräche zwischen Huber und K. sei legal gewesen und deren Abschrift durch die deutschen Behörden im Rahmen der gegenseitigen Amtshilfe in kriminellen Angelegenheiten übermittelt worden. Im Übrigen sei ein direkter Vorführungsbefehl ohne vorherige Vorladung unumgänglich gewesen, um gegenseitige Absprachen zu vermeiden.

Am 13. September 1985 wird Jutta Huber wegen «versuchter falscher Zeugenaussage» schuldig gesprochen und zu einer Busse von 4000 Franken verurteilt. «Ich werde nie vergessen, wie der Richter beim Urteil sagte, wir sollten zur Urteilsverkündigung aufstehen», erinnert sich Jutta W. «Und Edi, mein Anwalt, antwortete: ‹Die Scheisse können wir uns auch im Sitzen anhören!› Darauf der Richter: ‹Ja, wenn Sie meinen, dass Sie das im Sitzen anhören müssen, dann sitzen Sie.› Und Edi: ‹So ist es!› Das war grandios.»

Wenige Wochen später, am 23. Oktober 1985, wird das Strafverfahren gegen die zwei Mitglieder der Zürcher Hells Angels mangels genügender Beweise eingestellt. Eine niederschmetternde Niederlage für die Zürcher Justizbehörden, die sich zwanzig Jahre später, nach einer Grossrazzia gegen führende Mitglieder der Zürcher Hells Angels im April 2004, wiederholen sollte. Die Beweislage ist derart mager, dass sich die Stadtpolizei in einem Pressetext im November 1985 bemüssigt sieht, darauf hinzuweisen, dass die Hells Angels «keine harmlose Vereinigung friedlicher Motorradfreunde» seien.

Der Bescheid aus Strassburg

Im August 1986 erheben Huber und ihr Anwalt Beschwerde ans Bundesgericht. Sie machen erneut geltend, in Verletzung von Artikel 5 Absatz 3 der EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) habe ein und derselbe Bezirksanwalt ihre U-Haft angeordnet und die Anklageschrift entworfen. Das Bundesgericht tritt darauf nicht ein – mit der Begründung, Huber sei ja längst entlassen worden. «En passant» führte das Bundesgericht in seinem Urteil vom November 1986 aber auch aus, der Vorwurf sei «unbegründet», weil das Bundesgericht wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall «Schiesser gegen die Schweiz» bereits erklärt hätten, der Bezirksanwalt sei im Verfahrensstadium der Untersuchung ein «gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter» (vgl. «Das Recht auf einen unabhängigen Haftrichter» im Anschluss an diesen Text).

Exakt dieser beiläufige Zusatz des Bundesgerichts diente Huber und Schönenberger als Steilpass für ihren Gang nach Strassburg. Mit Erfolg: Am 23. Oktober 1990 erkennt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte an, dass die Zürcher Behörden im Fall Huber gegen Artikel 5 Absatz 3 EMRK verstossen hatten: Der Untersuchungsbeamte dürfe keine U-Haft verhängen, da er in der Regel später auch die Anklage vertrete – also Gegenpartei ist, weshalb von Anfang an Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen. Die Strassburger Richter verurteilen die Schweiz dazu, Jutta Huber die Gerichtskosten von 4492 Franken zurückzuerstatten. Ihre Forderung nach einem Schadenersatz und Zinsen in der Höhe von 24 000 Franken für die ungerechtfertigte U-Haft und den Verdienstausfall von acht Tagen in der Höhe von 1200 Franken wird abgewiesen.

Das Urteil sei trotzdem eine Genugtuung gewesen, sagt Jutta W.: «Endlich haben wir recht gekriegt – und damit Schwarz auf Weiss bestätigt, dass wir unmenschlich behandelt wurden.» Dass das Urteil aus Strassburg dazu führte, dass bald darauf im Kanton Zürich und wenig später in weiteren Kantonen besondere HaftrichterInnen eingeführt werden mussten, die innert 48 Stunden zu entscheiden haben, ob eine U-Haft angeordnet werden beziehungsweise jemandem die Freiheit entzogen werden darf – ja, das verschaffe ihr schon auch ein gutes Gefühl.

Nichts mehr wie früher

Zu dieser Zeit ist Huber, inzwischen 32, nicht mehr als Prostituierte tätig. Stattdessen dealt sie auf dem Platzspitz, wofür sie später auch verurteilt wird. Dass sie vorübergehend Probleme mit Heroin hatte, habe auch mit den Nachwirkungen der Strafuntersuchungen zu tun gehabt: «Die Kontakte nach Deutschland brachen ab. Durch so einen Scheiss hat man mir das alles kaputt gemacht.»

Zuletzt stand Jutta W. an der Ecke Lang-/Brauerstrasse. Ende der achtziger Jahre aber hatte sie genug. Begonnen habe das schon ab 1985, als immer mehr russische, osteuropäische und später auch exjugoslawische Zuhälter das Zepter übernahmen. Zugleich kamen immer mehr Frauen aus Südamerika, Afrika und Asien, die ihre Dienste um fast jeden Preis angeboten hätten: «Die Solidarität unter uns Frauen wurde zerstört. Wir haben uns in den späten Achtzigern nächtelang die Beine in den Bauch gestanden und grad noch das zum Leben Nötigste verdient. Ein paar Jahre vorher konntest du zweimal im Jahr in den Urlaub. Und jetzt musstest du froh sein, wenn du deine Miete bezahlen konntest. Frauen, die nichts mit dem Klub zu tun hatten, erzählten uns: ‹Da war schon wieder einer, der hat mir gesagt: Wenn du da stehen willst, musst du 200 Franken am Abend zahlen.›»

Anfang der neunziger Jahre, mit dem Rückzug der Hells Angels, sei definitiv alles den Bach runtergegangen: «Die haben sich gesagt: ‹Gegen was sollen wir kämpfen? Du kämpfst ja gegen Windmühlen.› Geh mal heute an die Langstrasse: Da siehst du dann all die jungen Mädchen aus Osteuropa, die von ihren Zuhältern auf den Strich geschickt und nach drei Monaten wieder busweise weggefahren werden. Menschenhandel pur! Doch da macht die Schmier nichts. Aber wehe, da war eine Frau, die Leute vom Klub kannte, da wurde ein Riesentheater gemacht.»

1992 beginnt ein neuer Abschnitt im Leben von Jutta W.: Inzwischen wieder clean, wird sie Mutter von Zwillingen – und schlägt sich die folgenden Jahre, von ihrem damaligen Mann im Stich gelassen, alleinerziehend als Kellnerin, Barkeeperin und Putzfrau durch.

An die Langstrasse zieht es Jutta W. schon lange nicht mehr. Mit all den schicken Szenelokalen, die heute das Quartier prägen, könne sie nicht viel anfangen. «Höchstens noch, um meiner Tochter beim Karaokesingen zuzuhören», sagt sie und lacht wieder dieses herzhafte Lachen. Immer wieder blitzt sie auf, diese Jugendlichkeit, gepaart mit praller Lebenserfahrung, wenn sie erzählt und von einem ins andere springt.

Mit den Hamburger Hells Angels von damals ist sie noch immer befreundet. Einmal im Jahr feiern sie eine grosse Party. «Dieses Jahr waren wir in Paris», sagt sie und zeigt auf ein Foto: «Hier, der da. Das ist er: K.»

Kornel Stadlers Illustrationen basieren auf Fotos, die die BeschwerdeführerInnen zeigen, die ihren Fall nach Strassburg zogen. Dazu integriert Stadler Reminiszenzen rund um den Fall.

Artikel 5 EMRK : Das Recht auf einen unabhängigen Haftrichter

Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Absatz 1 definiert die Umstände, unter denen einer Person die Freiheit entzogen werden darf. Im Zentrum des Falls «Huber contre Suisse» steht das in Absatz 3 festgehaltene Recht auf unabhängige HaftrichterInnen: «Jede nach der Vorschrift des Absatzes 1c festgenommene oder in Haft gehaltene Person muss unverzüglich einem Richter oder einem andern, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden.»

Bereits im Fall «Schiesser contre Suisse» (1979) ging es um die Frage, ob der Zürcher Bezirksanwalt unparteiisch genug sei, um als Haftrichter amten zu können. Damals bejahte dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch, weil nicht dieselbe Person die Haft angeordnet und auch Anklage erhoben hatte. In seinem Urteil vom 23. Oktober 1990 im Fall Huber jedoch beurteilte der Gerichtshof die Regelung der Anordnung von U-Haft im Kanton Zürich als Verletzung der EMRK. Begründung: In der Regel verwandelt sich der Untersuchungsbeamte, der die Haft verfügt, später in den Strafverfolgungsbeamten, der die Anklage erhebt.

Edmund Schönenberger, Hubers damaliger Anwalt, der seither vor allem Opfer fürsorgerischer Freiheitsentziehungen vertritt, bezeichnet die Wirkung des Urteils allerdings als «Schlag ins Wasser». Seiner Ansicht nach gibt es die Figur des unabhängigen Richters noch immer nicht – «zumal zum Richter faktisch nur gewählt werden kann, wer einer Partei angehört». Um das zu illustrieren, stützt sich Schönenberger unter anderem auf eine Analyse der vom Zürcher Obergericht 2016 veröffentlichten Urteile betreffend fürsorgerische Unterbringungen: Von 23 Haftprüfungsklagen wurden alle abgewiesen. Schönenbergers Fazit: «Zieht man die null Prozent Entlassungschancen beim Bundesgericht im Jahr 2016 in Betracht, heisst das, dass der Rechtsweg faktisch aufgehoben ist.»

Der Menschenrechtsexperte Ludwig A. Minelli, der schon in den frühen siebziger Jahren in Normenkontrollklagen gegen die Gefängnisverordnung des Kantons Zürich bessere Haftbedingungen gefordert und später vor Bundesgericht erstritten hat, beurteilt die heutige Situation wie folgt: «Generell wird in der Schweiz noch immer viel zu häufig U-Haft angeordnet. Gemäss Strafprozessordnung ist das Zwangsmassnahmengericht für die Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft zuständig. Würde es Freiheitssicherungsgericht heissen, wäre sein Zweck wesentlich besser umschrieben. Dann würde vermutlich auch viel eher von den in Artikel 212 vorgesehenen Ersatzmassnahmen als von U-Haft Gebrauch gemacht.»

Adrian Riklin