«Im Herzen der Gewalt»: Die Sprache ist stärker als die Angst

Nr. 38 –

Nach seinem furiosen Erstling «Das Ende von Eddy» legt Édouard Louis mit einem erneut zutiefst persönlichen Roman nach, der gleichzeitig sehr politisch ist.

Es ist Heiligabend in Paris, und wir folgen einem jungen Mann, dem Autor Édouard Louis selbst, wie er nach dem Essen bei Freunden durch eine schicke Gegend nach Hause geht. Auf der Place de la République spricht ihn ein Unbekannter an. Erst versucht er, ihn zu ignorieren, doch der Fremde lässt nicht nach. Schliesslich nimmt er Reda, wie der Fremde sich nennt, mit in seine Wohnung. Sie schlafen miteinander. Später versucht Reda zu klauen – und rastet aus, als Louis ihn erwischt: Er bedroht ihn mit einer Waffe, würgt und vergewaltigt ihn schliesslich.

Es ist ein zutiefst persönliches Erlebnis, das Édouard Louis in seinem neuen Roman «Im Herzen der Gewalt» literarisch verarbeitet. In den Monaten nach der Tat muss er zwanghaft allen davon erzählen. «In jener Zeit lebte ich neben meinen Worten her», schreibt er. Doch die Empathie seiner Freunde verärgert ihn mehr, als dass sie ihm hilft. Während sich Louis in seinem Debüt «Das Ende von Eddy» vom Trauma seiner Kindheit freischrieb, ist «Im Herzen der Gewalt» der Versuch, die Geschichte der erlebten Vergewaltigung wieder zur eigenen zu machen – «der einzige Ausweg besteht darin, eine Form des Erinnerns zu erlangen, die die Vergangenheit nicht wiederholt».

Anzeigen oder nicht?

Die Erzählweise, die Louis dafür findet, ist so aufwendig wie bestechend. So schildert er den eigentlichen Akt der Vergewaltigung erst gegen Ende des Buchs. Dennoch liegt dieser so bedrohlich über dem Text, dass man fast mit angehaltenem Atem die Seiten umblättert. Louis umkreist die Geschichte seiner Vergewaltigung über weite Strecken mit der Stimme seiner Schwester Clara, die er fast ein Jahr später besucht. Er ist zurück auf dem Land, im weissen, normannischen Arbeiterklassemilieu seiner Jugend, das er in «Das Ende von Eddy» mit all seiner sozialen Härte, Homophobie, dem Rassismus und Elitenhass so aufwühlend beschrieb.

Gerade hat er seiner Schwester von der Vergewaltigung erzählt, nun lauscht er, wie sie ihrem Mann im Nebenzimmer das Erlebnis schildert: «Also ich hab gedacht, der hatte wirklich Geduld, der andere. Ich an seiner Stelle wäre nicht weiter mit so einer Lusche mitgelaufen, die zu allem nur Nein sagt. Das war schon überhaupt nicht mehr logisch. Diese Geduld.» Louis widerspricht an manchen Stellen in kursiven Einschüben der Erzählung seiner Schwester, korrigiert ihre Aussagen für uns LeserInnen. Denn sie schweift immer wieder ab und wertet Louis’ Verhalten. Aus ihr spricht der ganze Klassenhass gegenüber dem schwulen, bildungsbürgerlichen Lebensstil ihres Bruders.

Im Verlauf des Erzählens entwickelt Louis aus dem persönlich Erlebten eine immer tiefer schürfende literarische Analyse der französischen Gesellschaft. Zum Beispiel, wenn er seine innere Zerrissenheit schildert: Aus politischen Gründen will er keine Anzeige machen, gleichzeitig fürchtet er sich vor einem neuen Überfall Redas. Oder wenn er aus den wenigen Worten, die Reda während ihrer Begegnung über seinen Vater verliert, die Misere der französischen Einwanderungspolitik skizziert. Redas Vater ist ein kabylischer Berber aus Algerien, der als Fabrikarbeiter nach Paris und in ein Heim kam, das von ehemaligen Militärs aus dem Algerienkrieg geführt wird. «Er wusste, er würde jahrelang mit vier anderen Männern in einem winzigen Zimmer schlafen müssen, in zwei Stockbetten, und der Letzte, der Fünfte, auf dem feuchten, stockigen Linoleum, auf einer Bodenmatte. Er hatte begriffen, dass Brände ein Teil ihres Daseins im Heim waren, dass es manchmal Todesopfer gab.»

Ausgeschlossen – eingeschlossen

Louis schärft den Blick für den institutionellen Rassismus, dem Reda von Kindesbeinen an ausgesetzt war und dem auch er selbst begegnet, als er sich dazu überwindet, doch zur Polizei zu gehen. Auf der Wache fragt der Polizist immer wieder, ob man Reda zum «maghrebinischen Typus» rechnen kann. So lange, bis Louis ihm zustimmt. «Er triumphierte, er war – vielleicht wäre es zu viel zu sagen überglücklich, aber er lächelte, strahlte, als hätte ich endlich etwas zugegeben, das er mir schon die ganze Zeit entlocken wollte, als hätte ich endlich den Beweis erbracht, dass er schon immer im Besitz der Wahrheit war.»

Erschöpft von weiteren tendenziösen Fragen verschiedener PolizistInnen möchte Louis die Anzeige schliesslich zurückziehen. Doch es ist zu spät. «‹Das hängt jetzt nicht mehr von Ihnen ab, Monsieur, tut mir leid. Das ist jetzt eine Sache der Justiz.› Ich begriff an jenem Abend nicht, wie es angehen sollte, dass mein Bericht nicht mehr mir gehören sollte, sondern der Justiz.» Louis wird aus seiner Geschichte ausgeschlossen und bleibt zwangsweise eingeschlossen. Für die Justiz, so erkennt er, wird er immer das Vergewaltigungsopfer bleiben, «da man mich nötigte, von ihr zu reden, ununterbrochen, dass also das Eingeschlossensein eine Bedingung des Ausgeschlossenseins sein sollte».

Dem 24-jährigen Édouard Louis gelingt mit seinem zweiten Roman ein literarischer Drahtseilakt: Aus dem Erlebnis der eigenen Vergewaltigung entspinnt er eine gesellschaftliche Gegenwartsdiagnose. Das macht «Im Herzen der Gewalt» zu einem zutiefst politischen und gleichzeitig sehr berührenden Buch. Denn Édouard Louis’ Antrieb ist das Anschreiben gegen die Angst. Und wenn er am Ende konstatiert, «mir ist nichts als die Sprache geblieben, und die Angst habe ich verloren», hat er sein Ziel gleich doppelt erreicht: Während mit der Angst immer mehr Politik gemacht wird, hilft uns Louis, sie zu verstehen – auf dass wir sie wie er verlieren.

Edouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Roman. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2017. 224 Seiten. 29 Franken