Jeff VanderMeer: Das Gehirn in den Fingerspitzen

Nr. 39 –

Hier spricht die Seeanemone: Mit der Titelfigur in seinem Endzeitroman «Borne» hat der US-Autor Jeff VanderMeer ein Wesen erschaffen, wie es die Literatur kaum je gesehen hat.

Tier oder Pflanze, gescheiterter Laborversuch oder heidnische Gottheit in spe? Das kümmert die real existierende grüne Seeanemone nicht. Foto: Kevin Griffin, Alamy

Das Ende der Welt, so hat ein kluger Mensch einmal geschrieben, sei für sich genommen ja der reine Blödsinn. So gesehen, erleben wir seit einiger Zeit eine ungeheure Renaissance des Blödsinns in der Popkultur. Und gemessen an den Endzeitfantasien, die uns in Film und Literatur heimsuchen, ist der spekulative Horizont dessen, wie wir uns die Zukunft vorstellen können, drastisch geschrumpft. Das zeigt sich nicht nur an dem beschränkten Repertoire an Bildern, die für unsere Welt zwischen Klimakollaps und Zombie-Apokalypse kursieren. Sondern schlicht und einfach auch daran, dass der Begriff, den wir uns von der Zukunft machen, selbst geschrumpft ist. Oder wann haben Sie letztmals irgendwo vom 22. Jahrhundert gehört oder gelesen?

Geschichten, die sich den Zusammenbruch der Zivilisation ausmalen, sind oft beseelt von einem grimmigen Ernst, dabei bedienen sie implizit immer auch überaus kindliche Fantasien. Alles kaputt, unser verwüsteter Lebensraum ein einziger, ungesicherter Robinsonspielplatz ohne Regeln, und die wichtigste Frage, die alle umtreibt, ist: Wann gibts wieder was zu essen? Aber irgendwo hält sich immer noch tapfer ein Rest Menschlichkeit, an dem man sich festhalten und sein Herz wärmen kann.

Und dann regnets Salamander

In einer solchen Endzeitkulisse ist auch «Borne» angesiedelt, der neue Roman von Jeff VanderMeer. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier nicht bloss die handelsüblichen Attraktionen des postapokalyptischen Grauens ausgebreitet werden, was ja immer auch etwas Pornografisches hat. Verbrannte Leichen, die an Strassenlaternen hängen, die schwarze Brühe eines verseuchten Flusses – das gibts hier schon auch, wird beiläufig erwähnt. Darüber hinaus kommt in «Borne» aber immer auch das Kindische des reinen Blödsinns, der im Ende der Welt liegt, ausgiebig zu seinem Recht. Etwa beim Wetter: Da ist einmal plötzlich ein dumpfes Prasseln zu hören, aber es regnet nicht etwa Wasser, sondern, wie als Karikatur einer biblischen Plage, Tausende von roten Salamandern.

Wir sind in den Trümmern einer Stadt ohne Namen, wo man an allen Ecken noch auf die organischen Restbestände eines verfallenen Konzerns für Biotechnologie stösst: schlummernde Keime, lebendes Getier oder irgendwas dazwischen. Hier haust unsere Ich-Erzählerin Rachel, die sich als Jägerin und Sammlerin von allerhand biotechnologischem Müll ernährt, den sie auf ihren Streifzügen durch die kaputte Stadt erbeutet. Dabei stösst sie schon auf der ersten Seite auf ein organisches Etwas, das anders ist als alles, was ihr sonst in die Finger kommt. Nicht grösser als ihre Faust, sieht es ein bisschen aus wie eine gestrandete Seeanemone, die ab und zu ein smaragdgrünes Leuchten aufblitzen lässt. Das ist der fantastische Agent des Unfugs, der diesem Roman den Titel verleiht. Rachel nimmt das schillernde Wesen mit nach Hause und tauft es auf den Namen Borne.

Der amorphe Allesfresser

Tier oder Pflanze, gescheiterter Laborversuch oder heidnische Gottheit in spe? Rachel weiss es selber nicht, aber ihr Zutrauen zu ihrem amorphen neuen Mitbewohner ist durch nichts zu erschüttern. Auch dadurch nicht, dass Borne offenbar exponenziell wächst und alles, was er verspeist, sich förmlich einverleibt, ohne je etwas auszuscheiden. Ihrem Überlebenspartner Wick ist der neue Gefährte deshalb auch von Anfang an suspekt, zumal Wick, in besseren Zeiten einst selber im Labor der Firma beschäftigt, sich mit Biotech um einiges gründlicher auskennt als Rachel. So kommt es, dass dieser sonst gar nicht zimperliche Endzeitroman stellenweise wie eine Beziehungskomödie vor grausiger Trümmerkulisse daherkommt: ein surreales und irgendwie auch inzestuöses Dreieck zwischen einer Frau, einem Mann und diesem geschlechtslosen Wechselwesen, das Zögling und Liebhaber zugleich sein könnte.

Und dann beginnt Borne zu sprechen, obwohl gar nicht ersichtlich ist, ob er überhaupt schon so etwas wie einen Mund besitzt.

Falls das bis hierhin noch nicht deutlich genug geworden ist: Mit Borne hat Jeff VanderMeer eine der merkwürdigsten literarischen Figuren neueren Datums erschaffen. So sachte, wie Rachel dieses unklassifizierbare Wesen einmal nach Verletzungen absucht, so zärtlich tastet der Autor seinen Borne mit Worten ab. Hier ist der grosse Biofantast der Gegenwartsliteratur in seinem Element, und vor unseren Augen entsteht ein formloser, knochenloser Körper mit Saugnäpfen und zarten Flimmerhärchen, der jede denkbare und undenkbare Gestalt annehmen kann. Dabei schreckt VanderMeer auch vor Albernheiten nicht zurück. Als Borne seine Rachel einmal komplett umhüllt, um sie vor rabiaten Bestien zu schützen, wächst aus der Wand aus Fleisch, die sie umgibt, ein Regal mit einem Telefon. Dann klingelt es, und als Rachel abhebt, ist Borne am Apparat, um sie zu besänftigen.

Kommt ein Bär geflogen

Dieses Geschöpf, so ist man versucht zu sagen, erscheint wie die organische Ausgeburt eines Trips auf einer extrem abgefahrenen Droge, die man erst noch erfinden müsste. Dabei heisst die einzige Droge, die hier im Spiel ist: Sprache. Auch dieser Borne wird high davon, wenn er von Rachel und aus Büchern reden und denken lernt und bald in verqueren Reimen drauflos plappert wie ein überbegabtes Kind, das die Wörter zu galoppierendem Nonsens verdreht und einen im nächsten Moment mit beunruhigenden philosophischen Fragen überfällt: «Wenn ich meinem Gehirn schade, bekomme ich dann ein neues? Eins, das nicht in meinen Fingerspitzen steckt?»

Neben diesem unbeschreiblichen Wechselwesen verblasst die andere fantastische Figur, die im Roman als marodierender Terrorfürst über die Stadt herrscht. Das ist Mord, ein riesiger Bär, noch so ein fehlgeleiteter Auswuchs aus den Labors der Biotechfirma. Und dieser Mord ist nicht bloss eine blutrünstige Bestie, er kann sogar – reiner Blödsinn! – fliegen. (Schade übrigens, dass in der deutschsprachigen Ausgabe der brüllende Bär aufs Cover kam, aber irgendwie auch verständlich: Wie sollte man den Titelhelden von «Borne» auch nur annähernd visuell dingfest machen?)

Und warum ist das alles nicht einfach nur – läppisch? Weil VanderMeer mit seiner kreatürlichen Fantasie die ganze postapokalyptische Vorstellungswelt auf eine Weise transzendiert, dass gleichsam durchs Hintertürchen ein utopisches Denken hineinschlüpft. Schon in seiner «Southern Reach»-Trilogie markierte die vom Menschen beschädigte Natur nicht das Ende der Vorstellungskraft, sondern erst deren Anfang. Dort hat sich in der Sperrzone die kaputte Wildnis auf eine Weise verselbstständigt, dass der Mensch sich keinen Reim mehr auf das machen kann, was dort vor sich geht. Auf ähnliche Weise bevölkert VanderMeer nun die kaputte und verseuchte Stadt mit allerhand biotechnologischem Auswurf, aus dem das Grauen genauso wie eine fabelhafte neue Schönheit erwachsen könnte.

Wo das wilde Denken wuchert

Dabei verschiebt sich nicht nur die Vorstellung dessen, was wir für tierisch halten, sondern auch die Definition dessen, was überhaupt ein menschliches Wesen ausmacht. «Bin ich eine Person?», fragt Borne seine Entdeckerin einmal. Und Rachel: «Für mich war er eine Person, aber eine, die dabei war, die Grenzen dieses Begriffs zu verschieben.»

In dieser posthumanen Biofiktion wuchert eine Art wildes Denken, das jeden alten Dualismus zwischen Mensch und Tier, zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Untergang und Auferstehung radikal aufhebt. Oder wie Borne sagen würde: «Natürlich, und das reimt sich auf kultürlich.»

Jeff VanderMeer: Borne. Aus dem Englischen von Michael Kellner. Kunstmann. München 2017. 367 Seiten. 32 Franken