Ausstellung: Eine Fotografie geht um

Nr. 40 –

Über die künstliche Herstellung eines historischen Dokuments: Eine Ausstellung zeigt, wie der «Sturm auf den Winterpalast» erst nachträglich als Theater zur Ikone wurde.

Von historischen Schlüsselszenen gibt es meist keine direkten Abbilder; auch im 20. Jahrhundert nicht, als mit der Fotografie bereits ein praktisches Dokumentationsmedium zur Verfügung stand. Das hat nicht nur damit zu tun, dass im entscheidenden Moment kein Fotoapparat zur Hand war. Vielmehr sind solche Ereignisse oft erst im Nachhinein als entscheidend erkannt oder, was häufiger der Fall war, als solche konstruiert worden. Eine aktuelle Ausstellung, die sinnigerweise nicht in einem Museum, sondern im Zürcher Theaterhaus Gessnerallee eingerichtet wurde, widmet sich entspannt und doch akribisch der Herleitung und Interpretation eines solchen nachträglich hergestellten historischen Bilddokuments.

Es geht um den berühmten «Sturm auf den Winterpalast» von Petersburg, der als Schlüsselmoment der russischen Oktoberrevolution von 1917 gilt. Verknüpft ist diese Eroberung des Palasts mit einer einzigen ikonischen Fotografie. Sie will den entscheidenden Moment der Einnahme der ehemaligen Zarenresidenz zeigen, aus der die Übergangsregierung Kerenski von den siegreichen Bolschewiki vertrieben wurde. Das Bild geistert nicht nur als vermeintliches Originaldokument durch die Bilddatenbank Getty, durch Schul- und Geschichtsbücher, sondern ziert auch eine DDR-Briefmarke und Meissner Porzellanteller. Der Haken an der Sache: Das Foto stammt gar nicht vom Ereignis selbst, sondern wurde erst am 7. November 1920, also am dritten Jahrestag der Revolution, bei der Probe zu einer monumentalen Theateraufführung aufgenommen, die Revolution und Sturm als aufwendiges Spektakel nachstellte.

Nachträglich umgedeutet

Es war ein Massentheater, wie es die Welt vorher und nachher nicht gesehen hatte. Nur spätere Monumentalfilme wie etwa «Gandhi» übertrafen die Dimensionen dieser gigantischen Liveinszenierung mit – je nach Quelle – 6000 bis 10 000 SchauspielerInnen und ebenso vielen ZuschauerInnen. Auf zwei Bühnen – einer weissen und einer roten – wurde mit viel Pathos die Überwindung der von Alexander Kerenski repräsentierten bourgeoisen Ordnung durch die sich formierende revolutionäre Masse nachgespielt. Das entscheidende und schliesslich fotografisch verewigte Moment war aber der Sturm auf den Palast, vor dem ein massiver Regieturm aufgebaut war, von dem aus die Inszenierung via Telefon mit Signaltafeln koordiniert wurde.

Sogar auf denjenigen Abzügen, bei denen sowohl dieser Regieturm als auch die TheaterzuschauerInnen herausretuschiert worden sind, ist der Sowjetstern über dem Palasteingang zu sehen: eigentlich ein klares Zeichen dafür, dass der Palast schon längst erobert war. Doch nicht nur das Bild selbst ist Produkt einer nachträglichen Bearbeitung und Umdeutung. Im Windschatten der fotografischen Ikone und des heroisierenden Theaterstücks wurde auch das Ereignis selbst immer mehr «retuschiert» und mit historischer Bedeutung aufgeladen: War doch der originale «Sturm» von 1917 eine eher unscheinbare Sache. Zudem hatte Kerenski den Palast bereits verlassen, als die RevolutionärInnen losstürmten.

Die Ausstellung der Slawistikprofessorin Sylvia Sasse und der Kuratorin Inke Arns zeigt nicht nur viele Theaterszenen, sondern auch eine erstaunliche Fülle von Druck- und Retuschevarianten des berühmten «Fotozeugnisses der Oktoberrevolution». Gleichzeitig wagen sich die Ausstellungsmacherinnen mit ihren Interpretationen auch über den historischen oder fotografischen Tellerrand hinaus. Mit Originalzitaten und im materialreichen Katalog werden etwa die spannenden Wechselwirkungen von Reenactment und (historischer) Wirklichkeit aufgegriffen. «Die Zeit der Statisten ist vorbei. Denkt daran, Genossen, ihr seid keineswegs Statisten, ihr seid Künstler», hielt der Hauptregisseur der Inszenierung schon 1920 fest. Es sollte keine passiven ZuschauerInnen mehr geben, nur noch AkteurInnen.

Zombifizierung der Massen

In einem Essay fächert der Philosoph Igor Chubarov auf, wie dieses Revolutionstheater weder in Shakespeares Sinn die ganze Welt als Bühne begreift noch als eine Art Dokumentartheater zu verstehen ist, bei dem die Wirklichkeit auf die Bühne geholt wird. Vielmehr geht es hier um nichts weniger als eine effiziente Herstellung und Konsolidierung von Wirklichkeit mit den Mitteln des Massentheaters. Eben diese theatralische Dynamisierung der Massen in ihrer ganzen wirklichkeitsmächtigen Wucht ist denn auch einer der Unterschiede zu weiteren bekannten nachgestellten «historischen» Fotoikonen wie etwa dem Hissen der US-Flagge auf der japanischen Insel Iwo Jima im Zweiten Weltkrieg.

Zusätzlich zur unprätentiösen historischen Schau, die Raum für eigene Gedanken lässt, steuern in der Gessnerallee zeitgenössische Künstlerkollektive aktuelle Perspektiven bei. Etwa die AktivistInnen der smarten Performancegruppe «Chto delat?» («Was tun?»), die sich hundert Jahre nach der Revolution erneut vor dem Winterpalast in Stellung bringen: mit einer thesenstarken Vorlesung über die heutige Zombiefizierung der konsumierenden Massen und einem Rap. «Wer kennt schon das zukünftige Schicksal seiner Knochen?», wird da skandiert – und so auch daran erinnert, dass Geschichte nie endgültig in Stein gemeisselt oder auf Fotopapier gebannt ist, sondern von jeder Generation neu aktualisiert werden muss.

«Sturm auf den Winterpalast. Geschichte als Theater»: Ausstellung im Nordflügel der Gessnerallee in Zürich. Noch bis am 25. Oktober 2017. Öffnungszeiten und diverse Veranstaltungen: www.gessnerallee.ch. Das Begleitbuch von Inke Arns, Igor Chubarov und Sylvia Sasse erschien bei Diaphanes und kostet 35 Franken.