Stalins Rückkehr: Unzählige Leben in wenigen Zeilen

Nr. 42 –

Zwölf Millionen Menschen sind Stalins Verfolgung zum Opfer gefallen. Irina Scherbakowa hat mit der Organisation Memorial das Schweigen über die Verbrechen gebrochen – und versucht sich zu erklären, warum Stalin in Russland heute so beliebt ist wie seit langem nicht mehr.

In diesen Tagen jährt sich nicht nur die Russische Revolution zum 100. Mal, 2017 ist auch der 80. Jahrestag einer äusserst repressiven Verfolgungskampagne, die man den Grossen Terror nennt. Seit HistorikerInnen in den neunziger Jahren Zugang zu riesigen Archiven von Geheimdokumenten erhielten, ist vieles ans Licht gekommen: die Funktionsweise des Repressionsapparats wie auch die schier unglaubliche Zahl der Opfer.

In den Jahren 1937 und 1938 sind innerhalb von vierzehn Monaten 1,7 Millionen Menschen verhaftet und mehr als 700 000 von ihnen hingerichtet worden. Auch die sogenannten Säuberungslisten sind inzwischen öffentlich. 40 000 Namen von Parteikadern und Kulturschaffenden, die alle zum Tod verurteilt wurden – unter jedem Todesurteil stehen Stalins Unterschrift und die Signatur seiner Schergen. Der Grosse Terror richtete sich dabei keineswegs gegen die Parteielite allein, faktisch fielen ihm Menschen aus allen Teilen der sowjetischen Gesellschaft zum Opfer.

Ihren Anfang nahm die Operation am 5. August 1937 mit einem Befehl des Sowjetgeheimdiensts NKWD. Darin enthalten war eine lange Liste von Personengruppen, die verhaftet werden sollten: ehemalige Beamte des Zarenreichs, wohlhabende Bauern, Weissgardisten, «Konterrevolutionäre». Später kamen mehrere «nationale Operationen» hinzu, in deren Rahmen Zehntausende BürgerInnen aufgrund ihres deutschen, polnischen oder finnischen Ursprungs umgebracht wurden. In die Regionen des Landes wurden Quoten übermittelt – wie viele Personen aus welcher Gruppe zu verhaften waren. Dabei gab es zwei Kategorien: Die einen wurden unmittelbar zum Tod verurteilt, die anderen kamen in Lagerhaft. Reihenweise wurde gefoltert, um falsche Geständnisse zu erzwingen. Auch die Ehefrauen sogenannter Vaterlandsverräter wurden verhaftet, man brachte sie in spezielle Lager und steckte ihre Kinder in Waisenhäuser.

Wesensmerkmal des Grossen Terrors war die Nutzung aussergerichtlicher Mechanismen, um über Leben und Tod zu entscheiden. Eigens geschaffene Gremien, sogenannte Troikas mit je einem lokalen NKWD-Vertreter, Staatsanwalt und Parteisekretär, sprachen im Schnelldurchgang und in Abwesenheit der Angeklagten ihre Urteile, ohne Recht auf Berufung.

In den Städten verwaisten in diesen Monaten ganze Häuser, die Leute fürchteten stets, jemand würde nachts an ihrer Tür klingeln. Allein in Moskau wurden 1937 über 10 000 Wohnungen «frei», in viele davon zogen später MitarbeiterInnen des NKWD. Die Speicher des Geheimdiensts barsten vor konfiszierten Gegenständen. Manuskripte von Büchern und Artikeln wurden zerstört, Gemälde verbrannt.

In der Nacht transportierten Spezialfahrzeuge die Gefangenen durch die Stadt, während ihre Angehörigen im Geheimdienstgebäude stundenlang Schlange standen – in der Hoffnung, etwas über das Schicksal ihrer Nächsten zu erfahren. Die systematischen Lügen der Behörden prägten die folgenden Jahre: Zuerst erklärte man, die Angehörigen befänden sich in Lagern «ohne Recht auf Korrespondenz», später wurden gefälschte Todesurkunden verschickt, weil die InsassInnen angeblich durch Krankheit gestorben waren. Begleitet wurde all dies von einer gewaltigen Propagandakampagne gegen «Volksfeinde». Sie schuf eine Atmosphäre, in der Denunziation gefördert wurde, Heuchelei, Anpassungsfähigkeit, bewusstes und unbewusstes Wegschauen und Weghören.

Derweil sah sich die linke Intelligenzija im Westen vor die praktisch unmögliche Wahl zwischen Hitler und Stalin gestellt. Das vielleicht schillerndste Beispiel dieser tragischen wie zynischen Selektion war das Buch «Moskau 1937» des deutschen Exilautors Lion Feuchtwanger, in dem er die Moskauer Schauprozesse verteidigte.

An Unfreiheit gewöhnt

Insgesamt fielen den stalinschen Säuberungen zwölf Millionen Menschen zum Opfer. In der Sowjetgesellschaft hinterliess der Terror tiefe Spuren, er atomisierte sie. In den Augen der Behörden waren informelle Vereinigungen verdächtig oder gefährlich – Briefmarkensammler genauso wie Freundeskreise. Argwohn gegenüber dem Ungewöhnlichen oder Fremden, paranoider Spionagewahn: Damals wurde eine Angst geschürt, die sich als überaus nachhaltig erwies. Angst vor einem ausserordentlich grausamen Staat, der nach Kontrolle über die Gesellschaft als Ganzes wie auch über das Individuum strebt. Angst vor Widerstand und der Äusserung einer freien und unabhängigen Meinung.

Das stalinsche Erbe liegt in der Gewöhnung an eine Unfreiheit, die in Körper und Geist der sowjetischen Bevölkerung übergegangen ist. Wassili Grossman, einer der bedeutendsten sowjetischen Prosaiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beschrieb dies 1963 in «Alles fliesst» so: «Von Lenin geerbte revolutionäre Kategorien von Diktatur und Terror und vom Kampf gegen bourgeoise Freiheiten (…) gingen ins Fundament über, verbunden mit einer tausendjährigen russischen Unfreiheit. Mit Stalins Hilfe wurden sie zum Staatsinhalt, derweil die Reste der Sozialdemokratie zur Theaterdekoration verkamen.»

Irina Scherbakowa (68).

Jahrzehntelang fand sich für das Trauma keine Sprache. Die Überlebenden blieben von einer Furcht befangen, die weder nach Stalins Tod im Jahr 1953 verschwand, noch, als man die Gulags nach und nach auflöste und die ehemaligen «Volksfeinde» rehabilitierte. Unter Nikita Chruschtschow begann in den fünfziger Jahren zwar die sogenannte Tauwetterperiode, in der die Verbrechen angesprochen wurden. Doch in der Zeit von Leonid Breschnew, der von 1964 bis 1982 Generalsekretär der KPdSU war, stoppte man diesen schwierigen Reflexionsprozess und verbannte ihn aus dem öffentlichen Raum in den Untergrund. Die Säuberungen und der Gulag blieben bis zum Beginn der Perestroika Tabuthemen. Aber vor allem im kulturellen Diskurs lebte der Kampf zwischen Stalinisten und Antistalinistinnen fort.

Normalisierte Gewalt

Damals schon war die tiefe Krise des Sowjetsystems mehr als offensichtlich, schien die Mehrheit der Bevölkerung endlich zu begreifen, dass das von Stalin geprägte System liquidiert werden musste. Denn es war das Haupthindernis für Reformen, die für das Land lebensnotwendig waren. Viele verstanden, dass man sich von der jahrelangen Gewöhnung an Unfreiheit und Gewalt lösen musste. Es galt, Stalins Erbe zu überwinden, das eben in der Banalisierung und Normalisierung von Gewalt lag. Mit dem Ende der Einparteienherrschaft, dem Übergang zur Marktwirtschaft und dem (im Vergleich mit den Konflikten in Jugoslawien) grösstenteils unblutigen Zerfall der Sowjetunion entstand die Illusion eines endgültigen Abschieds vom Stalinismus.

Die Leute forderten die Öffnung der Geheimarchive, wollten endlich die Wahrheit über die Repression des kommunistischen Regimes erfahren, wollten die Opfer rehabilitieren. Aus dieser Bewegung entstand 1987 die Menschenrechtsorganisation Memorial, an deren Gründung ich beteiligt war. Sie vereinigte Dutzende unabhängige Gruppen in Russland und den Ländern der Sowjetunion. «Die Leute sind heimlich verhaftet und erschossen worden. Wir werden die Erinnerung an sie sammeln und öffentlich machen»: Dieses Motto, diese Verpflichtung war und ist das Wesen der Organisation.

Seither sind fast dreissig Jahre vergangen, die Arbeit von Menschenrechtlerinnen, Journalisten und Historikerinnen hat viel bewirkt: Die Geheimarchive sind inzwischen öffentlich, viele Einzelschicksale bekannt. Zwar ist der geplante breite Zusammenschluss von Instituten, Archiven und Bibliotheken nicht umgesetzt worden – ein Kollektiv, das dem Gedenken an die Opfer gewidmet wäre, das die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit als Schlüssel staatlicher Geschichtspolitik verstünde. Dennoch wurde viel erreicht: In diversen Städten des Landes errichtete man Gedenktafeln für die Opfer der Säuberungen – in der Regel auf zivilgesellschaftliche Initiative hin oder durch das Engagement von Privatpersonen, manchmal nach langen Auseinandersetzungen mit den Behörden.

Hunderte Bücher sind erschienen, wissenschaftliche Monografien, Dokumentensammlungen. Auch das Archiv und die Museumskollektion von Memorial sind entstanden – mit Hunderttausenden von persönlichen Zeugnissen: Briefen, Memoiren und Artefakten über das Leben im Gulag. Es ist gelungen, Opferlisten in einer gemeinsamen Datenbank zu versammeln, in der sich heute Informationen über 2,7 Millionen der Säuberungsopfer finden. Erstellt wurde auch eine Liste der Anführer und Organisatoren des Terrors – aus der Überzeugung heraus, dass die Erinnerung sich nicht nur auf die Schicksale der Opfer beschränken darf, dass die kollektive Erinnerung an die Schuldigen genauso wichtig ist.

Der Stalinismus, schrieb der Moskauer Historiker Michail Gefter, sei die «gewaltigste und durch ihre Rätselhaftigkeit eine der furchtbarsten Erscheinungen des 20. Jahrhunderts. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass dieses scheidende Jahrhundert – als Ganzes genommen – nicht verstanden und dem 21. Jahrhundert ‹vererbt› werden kann, solange das Geheimnis nicht gelüftet ist – gelüftet durch seine Überwindung.»

In den neunziger Jahren schien es, als hätte die russische Gesellschaft die Entlarvung der Geheimnisse des Stalinismus und damit dessen Überwindung schon beinahe erreicht. Damals ruhten die Hoffnungen auf einer neuen Generation, die in Informationsfreiheit aufwächst, nicht nach sowjetischen Schulbüchern und Lehrplänen lernt, deshalb frei von sowjetischen Mythen ist. Einer Generation, für die Stalin zum Symbol einer brutalen Diktatur mit Millionen Opfern wird.

Es erwies sich als Illusion – genauso wie die Überzeugung, dass man den Mythos mithilfe der historischen Wahrheit leicht besiegen kann, dass an seine Stelle das objektive Wissen rückt. Stattdessen stellen sich die Fragen nach der Beziehung zu Stalin, nach den Ursachen der verfehlten Entstalinisierung heute dringlicher denn je. Während Anfang der neunziger Jahre in Umfragen nur 8 Prozent Stalin als den «bedeutendsten Politiker aller Zeiten» sahen, befand er sich 2012 mit 42 Prozent schon auf Platz 1. Heute ist die Zahl ähnlich hoch. Der Anteil junger Menschen unter den Stalin-Fans ist vier- bis fünfmal höher als damals. Das ist kein Zufall, sondern Symptom tiefer Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein.

Enttäuscht von der Demokratie

Was ist mit der russischen Gesellschaft passiert? Bereits Mitte der neunziger Jahre wurde Nostalgie sichtbar, die Sowjetepoche färbte sich in der Erinnerung rosarot. Die Breschnew-Ära mit ihrem grauen Alltag, dem ewigen Schlangestehen und der Mangelwirtschaft erschien in der Rückblende als ruhige und freudvolle Zeit, eine des Wohlstands. Die Gründe und Ausprägungen dieser Nostalgie waren vielfältig – doch in erster Linie war sie der Unzufriedenheit mit den Wirtschaftsreformen und ihren politischen und sozialen Folgen geschuldet. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, die viele Leute stark getroffen hatte, manifestierte sich Enttäuschung über eine nie richtig vollzogene Demokratisierung. Nach und nach machte sich Müdigkeit breit, das Interesse an der Reflexion der Geschichte erlosch, die historische und zivilgesellschaftliche Arbeit an der Überwindung der Vergangenheit ging langsam ein.

So offenbarte sich schon ein paar Jahre später, dass die russische Regierung nicht nach einem Verständnis der Vergangenheit strebte, nicht gewillt war, die Erinnerung an die Repression zum Fundament für den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu machen. Und wie schon zu Breschnews Zeiten geschah etwas, das noch ein paar Jahre zuvor völlig unmöglich erschien: Im historischen Bewusstsein der Russinnen und Russen tauchte Stalin wieder in positivem Licht auf.

Als sich die neue Regierung auf der Suche nach einem «eigenen» Weg vom westlichen Demokratiemodell verabschiedete, sich die nationale Idee immer intensiver an alten sowjetischen Mythen über die stalinistische Modernisierung oder die Umwandlung des Landes in eine Supermacht zu orientieren begann, beriefen sich nicht mehr nur prokommunistische Kreise auf Stalin.

Dass Stalin für ganz verschiedene soziale Gruppen immer mehr zum Symbol wurde, war natürlich kein Zufall. Seine Gestalt entpuppte sich als überaus standhaft, lebendig und vielschichtig. Stalin verkörperte das russische Imperium und dies – so paradox es auch ist – noch mehr als der letzte russische Zar. Er war auch das Symbol für eine Atommacht, vor der sich der Westen fürchtete. Und er verkörperte den Sieg im Zweiten Weltkrieg, der in Russland Grosser Vaterländischer Krieg genannt wird, ein Sieg, der Stalins weiser Führung zugeschrieben wurde – was besonders entscheidend ist, da dieser als einziges Ereignis des Jahrhunderts Ursprung von russischem Nationalstolz ist.

Die Demokratiebewegung der Perestroikazeit, die Mobilisierung einer ganzen Gesellschaft, die in der Befreiung der Länder Osteuropas aus der sowjetischen Einflusssphäre endete, der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kalten Kriegs werden als Niederlagen gesehen. Der Zerfall der Sowjetunion gilt als Störfall. Dass die ideologische Wende, die mit Wladimir Putins Machteintritt einherging, die heutige positive Beziehung zu Stalin und zu autoritärer Herrschaft geformt hat, daran besteht kein Zweifel. Dabei wurde Stalin immer wichtiger: als Symbol für Isolationismus und antiwestliche Propaganda, für Traditionalismus und paternalistische Herrschaft, als Symbol für die Alternativlosigkeit der herrschenden Macht.

Für die regierungstreue Elite ist Stalin eine überaus bequeme Figur. Doch zugleich verkörpert er – bei tiefster sozialer Ungleichheit für die von der Gesellschaft marginalisierten Gruppen – die Hoffnung des «kleinen Mannes»: dass es nur jemanden wie ihn bräuchte, um sämtliche korrupten Politikerinnen und Bürokraten zu bestrafen, die ganze schamlose Elite ins Gefängnis zu bringen.

Keine Vorstellung von der Zukunft

Haben die Menschen in diesem Land denn vergessen, dass mit diesem Namen Säuberungen verbunden sind, die praktisch jede russische Familie betreffen? Umfragen nach zu urteilen, ist das nicht der Fall: Zwei Drittel geben zu Protokoll, Stalin sei für den Tod von Millionen unschuldiger Menschen verantwortlich. Doch dieselben Leute sind nicht bereit, Stalin als «Staatsverbrecher» anzuerkennen – wohl vor allem, weil eine solche Anerkennung auch die Anerkennung des sowjetischen Systems als verbrecherisch nach sich ziehen würde.

Ein Konsens über die negative Bewertung von Stalins Verbrechen ist heute unmöglich. Am eindrücklichsten zeigt sich dies an der Unfähigkeit der russischen Gesellschaft zur kollektiven Identität. Weil keinerlei Vorstellung von der Zukunft existiert, erscheint sie überaus schwammig. In was für einem Russland werden wir leben? Einem stabilen, das – «von den Knien auferstanden» – seinen eigenen Weg geht? Wie sähe dieser Weg überhaupt aus? Die Ideologen des Kreml sind nicht in der Lage, einen Weg deutlich zu skizzieren – und genau deshalb spielt die Vergangenheit im heutigen Russland eine solch immense Rolle. In den letzten zehn Jahren ist Stalin immer aufdringlicher geworden – ständig blickt er einem vom TV-Bildschirm entgegen, schaut einen von Reklametafeln an, von den Wänden der Metrowagen und den Vitrinen der Buchläden, in denen ganze Regale vollgestellt sind mit pseudohistorischer Makulatur, die Stalin weisswäscht und überhöht. Im ganzen Land hat man Dutzende Denkmäler zu seinen Ehren errichtet.

Zurzeit müssen sich die Behörden in Bezug auf die Jubiläen des Jahres positionieren, die «nationale Versöhnung» wird dabei zur Hauptparole. Deshalb wird auch Stalin rehabilitiert, während man gleichzeitig so tut, als würde man der Opfer gedenken. In Moskau ist ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag entstanden, und in wenigen Wochen wird im Stadtzentrum ein Denkmal für die Opfer eröffnet: die «Trauermauer» des Bildhauers Georgi Franguljan.

Doch neben der Errichtung einer «Trauermauer» bräuchte es für eine Entstalinisierung zwingend auch die Verurteilung von Stalins Verbrechen auf staatlicher Ebene. Memorial hat jahrzehntelang praktisch ohne staatliche Unterstützung die Erinnerung an die Opfer bewahrt – und wurde dafür letztes Jahr zum sogenannten ausländischen Agenten erklärt. In der Logik der Regierung müssen alle Bestrebungen von ihr selbst ausgehen und kontrolliert werden, darunter auch die Erinnerung an die Opfer. Alle Bestrebungen, der Gesellschaft ihre Verantwortung für die Vergangenheit ins Bewusstsein zu rufen, werden mit «aus dem Ausland initiierten Kampagnen» erklärt – angeblich darauf ausgelegt, bei den RussInnen einen Schuldkomplex zu erzeugen.

Ermutigende Projekte

Trotz allem gibt es auch heute noch Kräfte, die sich der Restalinisierung widersetzen – Initiativen von unten, von Einzelpersonen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das Interesse an Dokumenten über die Säuberungen wächst beständig, wie auch – vor allem bei den UrenkelInnen – das Interesse an der eigenen Familiengeschichte. Lust, mehr über das Schicksal von Verwandten zu erfahren, deren Namen man jahrzehntelang nicht auszusprechen wagte.

Der Tomsker Wissenschaftler Denis Karagodin etwa veröffentlichte kürzlich die Namen der Schuldigen am Tod seines Urgrossvaters – von den Sekretärinnen und Ermittlern bis zu denen, die ihre Unterschrift unter das Todesurteil setzten. Und auch das Projekt «Letzte Adresse» wird breit unterstützt: Dabei werden Plaketten an die Fassaden von Häusern angebracht, in denen einst die Opfer von Stalins Säuberungen lebten. Inzwischen gibt es in mehr als dreissig Städten viele Hundert solcher Schilder mit Namen und Lebensdaten, Hunderte haben zudem um die Aufstellung einer Plakette ersucht. Und seit zehn Jahren findet Ende Oktober, am Vorabend des offiziellen Tages der Erinnerung an die Opfer politischer Verfolgung, die Gedenkaktion «Rückgabe der Namen» statt. Von morgens bis zum späten Abend werden am Lubjanka-Stein vor dem Gebäude des Inlandsgeheimdiensts FSB in Moskau die Namen der Ermordeten vorgelesen. Nachname, Name, Geburtsjahr, Beruf. Bescheidene Angaben. Ein ganzes Leben, das in vier Zeilen passt. Auch diese Aktion findet inzwischen in vielen russischen Städten statt.

All dies lässt mich hoffen, dass sich die Geschichte nicht komplett überschreiben lässt. Doch klar ist auch: Russland wird nicht auf den Weg der Demokratisierung zurückkehren, ohne dass Stalin und das System, das er errichtete, endgültig verurteilt werden.

Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.

Geschichte als Lebensaufgabe

Die Moskauer Historikerin, Bürgerrechtlerin und Journalistin Irina Scherbakowa (68) setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, die Repression in der ehemaligen Sowjetunion aufzuklären. Ende der siebziger Jahre begann sie, Tonbandinterviews mit den Opfern des Stalinismus zu sammeln, später forschte sie in den Archiven des Geheimdiensts KGB.

1987 war Scherbakowa Mitbegründerin von Memorial, der ersten unabhängigen Menschenrechtsorganisation in der Sowjetunion und bis heute der bedeutendsten. Sie leitet die Jugend- und Bildungsprogramme von Memorial und veranstaltet jährlich einen SchülerInnenwettbewerb.

Scherbakowa hat zahlreiche Bücher zur Geschichte und zur aktuellen Politik Russlands veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel «Der Russland-Reflex: Einsichten in eine Beziehungskrise» (2015).