Kenia im Umbruch: Sezessionistische Fantasien

Nr. 43 –

Die Farce um die Wiederholung der Präsidentschaftswahl widerspiegelt auch eine zunehmende ethnische Rivalität in Kenia: Die Luo, die Barack Obama zu ihren «Brüdern» zählen, fühlen sich einmal mehr von der Mehrheit hintergangen.

Kenia «unregierbar» machen, falls die Wahlkommission nicht abberufen wird: Demonstration in Kisumu am 12. August.

Ein Mann in weitem, blauem Gewand und mit violettem Turban kniet mit einem Hirtenstab in der Hand vor einer Felswand und betet. Erst murmelt er, dann schreit er laut auf. Inbrünstig fleht er Gott an, dem Volk der Luo zur Seite zu stehen. Kit Mikayi, wie die bizarre Felsformation im Westen Kenias genannt wird, ist ein heiliger Ort der Luo. Regelmässig pilgern Angehörige der ostafrikanischen Ethnie zu den Granitbrocken, um für Frieden, Regen oder Kindersegen zu beten. Sie zünden zwischen den Felswänden Kerzen an, schlagen Hühner gegen den Stein oder lassen das Blut von Ziegen in die Felsspalten fliessen.

«Unser Gott hat uns noch nie im Stich gelassen», sagt der 69-jährige Mann vor der Felswand. «Er wird uns auch jetzt wieder helfen.»

«No Raila, no Kenia»

Dieses Mal handelt es sich um eine handfeste politische Krise. Die Luo-Führung hatte fest damit gerechnet, dass ihr Präsidentschaftskandidat Raila Odinga die Wahl im August für sich entscheiden würde. Als die Wahlkommission den bisherigen Präsidenten Uhuru Kenyatta mit 54 Prozent der Stimmen zum Gewinner erklärte, sahen sie sich um den Sieg betrogen.

In der Tat ordnete der Oberste Gerichtshof in einer in Afrika bislang beispiellosen Entscheidung eine Wiederholung der von zahllosen Unregelmässigkeiten getrübten Wahl an. Doch die Regierung weigerte sich, die kompromittierte Wahlkommission zu ersetzen. Die Opposition gelangte deswegen wieder ans Oberste Gericht, um die Wahlwiederholung zu verschieben. Dieses war aber nicht imstande, rechtzeitig ein Urteil zu fällen. So findet die Wahl wie vorgesehen am Erscheinungstag dieser WOZ statt – und Odinga wird sie wahrscheinlich boykottieren.

In der dreissig Kilometer von Kit Mikayi entfernten Provinzhauptstadt Kisumu gehen wegen dieser Farce fast täglich Tausende von zornigen Jugendlichen auf die Strasse, um sich Schlachten mit der Polizei zu liefern: Sie wollen Kenia «unregierbar» machen. «No Raila, no Kenia», rufen die jungen Luo-Männer vor brennenden Barrikaden: Wenn die herrschenden Kikuyu nicht nachgeben, wollen sie das Land in zwei Teile zerreissen.

Die Protestwelle droht den ostafrikanischen Staat in den Abgrund zu stürzen. Die Wirtschaft stockt, die TouristInnen bleiben aus, die Bevölkerung fürchtet ein Blutbad wie nach den Wahlen vor zehn Jahren, als weit über 1200 KenianerInnen ums Leben kamen. Odingas National Super Alliance (Nasa) und die regierende Jubilee-Allianz unter Präsident Kenyatta stehen sich voller Hass gegenüber.

Exodus aus Ägypten

Ihr Volk sei von den Kikuyu schon immer übers Ohr gehauen worden, sagt Dorothy Aweno Juma, die einzige Frau im zwanzigköpfigen Ältestenrat der Luo, in ihrem wenige Kilometer von Kit Mikayi entfernten Haus. Im Kampf gegen die britische Kolonialmacht hatten die Väter der beiden heutigen Rivalen – Kenias Gründungspräsident Jomo Kenyatta und Luo-König Jaramogi Oginga Odinga – noch zusammengestanden. Doch schon wenige Jahre nachdem das Land 1963 unabhängig geworden war, kam es zum grossen Zerwürfnis. Präsident Kenyatta liess den Vizepräsidenten Odinga wegen angeblicher Illoyalität ins Gefängnis werfen und schusterte den im Zentrum des Landes lebenden Kikuyu einen Grossteil der von den britischen SiedlerInnen verlassenen Ländereien zu.

Seitdem stehen sich die Kikuyu, die heute rund 6,5 Millionen der fast 50 Millionen EinwohnerInnen Kenias ausmachen, und die gut 4 Millionen Luo als RivalInnen gegenüber. Letztere sind überzeugt davon, dass sie wirtschaftlich an den Rand gedrängt und mit allen Tricks von der Macht ferngehalten werden. Und das, obwohl viele von ihnen in den Missionsschulen der Region bestens ausgebildet wurden und während des Eisenbahnbaus eine herausragende Rolle spielten. «Wir Luo müssen uns nicht verstecken», sagt Dorothy Juma, die über zwei Universitätsabschlüsse verfügt. Stolz verweist sie auf den prominentesten ihrer «Brüder»: Barack Obama, dessen Vater einst gemeinsam mit ihrem Vater zum Studium in die USA geschickt worden war.

Die Luo sprechen eine eigene Sprache, lassen ihre Jungen nicht beschneiden und essen statt roten Fleischs lieber Geflügel und Fisch – ein Relikt aus ihrer alten Heimat. Irgendwann in den vergangenen Jahrhunderten kamen die Luo vom Nil in Ägypten in Richtung Süden gezogen. Am Viktoriasee angelangt, breiteten sie sich über ein mehrere Staaten umfassendes Gebiet aus. Ausser in Kenia liessen sich die MigrantInnen in Uganda, in Tansania und im Südsudan nieder – selbst in der Zentralafrikanischen Republik und im westafrikanischen Nigeria sind heute Luo-Gemeinschaften zu finden.

Die letzte Chance

In Bondo ist es am Morgen noch ruhig. Das Universitätsstädtchen liegt rund hundert Kilometer von Kisumu entfernt. Als der Wärter im Mausoleum den Besucher kommen sieht, wischt er schnell den Staub vom bronzenen Löwen, der über die Gebeine des Königs wacht. Die Gedenkstätte für Jaramogi Oginga Odinga wurde mitten im Anwesen errichtet, das der Luo-Führer einst mit seinen vier Frauen bewohnte. Im Museum ist noch der Pyjama zu sehen, den Odinga trug, als er von den Häschern Kenyattas verhaftet wurde.

Auch sein zweitältester Sohn Raila sass mehrere Jahre lang hinter Gittern. Der in der DDR ausgebildete Ingenieur gilt als links, seinen bereits verstorbenen Sohn nannte er Fidel Castro. Raila unterlag an den Wahlurnen nicht weniger als viermal in Folge: Die Abstimmung im Jahr 2007 war zweifellos manipuliert, die anderen sind zumindest umstritten. Der jüngste Urnengang galt weithin als die letzte Chance des 72-Jährigen.

Am Mittag brechen in Bondo Unruhen aus. Bereitschaftspolizisten eröffnen das Feuer und töten zwei Jugendliche. Menschenrechtsorganisationen werden später einmal mehr das rücksichtslose Eingreifen der Sicherheitskräfte geisseln: Auch bei den Protesten in Kisumu und der Hauptstadt Nairobi setzt die Polizei regelmässig scharfe Munition ein. Bei den jüngsten Zusammenstössen kamen bereits mehr als fünfzig Menschen ums Leben.

«Wir haben endgültig die Nase voll», sagt Caroline Awuor Ogot, führendes Mitglied in Raila Odingas Orange Democratic Movement (ODM): «Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden wir ewig deren Sklaven bleiben.» Nach der Auffassung der Oppositionspolitikerin gibt es inzwischen nur noch eine Lösung: die Abspaltung eines Kikuyu-freien Territoriums. In ihrem Handy ist eine Karte gespeichert, auf der eine «People’s Republic of Kenya» eingezeichnet ist – dass diese Volksrepublik in ihren Augen wie ein Fisch aussieht, kommt der Luo-Frau entgegen. Dass hingegen die Kikuyu-Republik nicht einmal einen Zugang zum Meer hätte, muss die Luo-Politikerin nicht scheren. Schon eher die Tatsache, dass das multikulturelle Nairobi verloren ginge: Dort leben fast eine Million Luo.

Auch Dorothy Juma ist überzeugt davon, dass der Teilungsplan die beste und einfachste Lösung des sich verschärfenden Konflikts ist. Der zuständigen Stelle in Nairobi sei bereits ein Antrag auf eine Volksbefragung zugeleitet worden, sagt das Ältestenratsmitglied. Dass andere Ethnien, die zu Minderheiten in der neuen Volksrepublik würden, kaum Interesse an einer Abspaltung haben, lässt sie unerwähnt. Und den Verdacht, dass die Luo schliesslich mit den «Schwestern und Brüdern» aus den Nachbarländern einen gemeinsamen Staat anstreben könnten, weist Dorothy Juma von sich.

Anyang Nyong’o hält die Sezessionspläne aus solchen Gründen für «halbintellektuellen Unsinn». Der Nasa-Politiker führt derzeit ein Doppelleben. Morgens begleitet er die DemonstrantInnen durch Kisumus Strassen, am Nachmittag sitzt er frisch geduscht in seinem Büro in einem am Stadtrand gelegenen Hochhaus, um seinen Pflichten als Gouverneur der Region nachzugehen. Der Politologieprofessor und Vater der Oscar-Preisträgerin Lupita Nyong’o fürchtet die ethnischen Konzepte seiner Landsleute: Solches Denken habe in Südafrika zur Apartheid und in anderen afrikanischen Staaten zum Völkermord geführt. Allerdings besteht auch für den 72-jährigen Gouverneur kein Zweifel daran, dass die Luo in ihrer Geschichte sträflich vernachlässigt worden seien. «Und wer glaubt, dass Nationen für immer bestehen, der irrt sich.»