#Vintage Village: Bei Cecè fängt jeder Abend an, und hier hört er auch auf

Nr. 44 –

Seit fünfzehn Jahren besucht unsere Autorin dasselbe süditalienische Feriendorf. Letztes Jahr ist es von der Mafia «befreit» worden. Jetzt soll es als «Vintage Village» aufgewertet werden.

«Und schreib über den Strand, das ist das Wichtigste! Den Rest lass weg.» Foto: Campeggi e Villaggi

Auf der Anfahrt übers Land begrüsst uns der Geruch von Feld- und Abfallfeuern. Wir zählen die brennenden Hügel, der Fahrer sagt: «Allein heute 35 Feuer in ganz Kalabrien.» Im Mondschein erreichen wir das Villaggio: Hunde bellen, die Oleanderluft wiegt schwer wie Crème.

Seit fünfzehn Jahren verbringe ich meine Sommerferien in diesem entlegenen Ort an der Stiefelspitze Italiens. Heuer ist das Dorf im Internet angekommen: als «Vintage Village». Die Social-Media-Kampagne läuft, unter dem Slogan «Visit – call now» wird fleissig gepostet. Mehr oder weniger berühmte Personen loben in Testimonials das Glitzern des Meers und die regionalen Köstlichkeiten. Im Sommer zeigen Livevideos Aquagymnastikkurse in den Wellen; schwitzende Männer, die einen Holzsteg legen; lokale Bands, die in herzerweichendem Fantasieenglisch «Born to Be Wild» brüllen. Nun, Ende Oktober, locken Handyfilmchen vom kilometerlangen, menschenleeren Sandstrand in die ruhige Schönheit des kalabrischen Spätsommers.

Im August aber geht es ab: Besonders die Bar da Cecè ist immer gut besucht. Im gleissenden Neonlicht tanzen Kleinkinder zwischen Inseln aus Nestlé-Plastikstühlen, auf denen, nach Generationen sortiert, das ganze Villaggio fläzt: aufgekratzte Teenies, gelangweilte Twens, über Carbonara gestikulierende Eltern, schweigend Solitario legende Nonni. Bloss ein «marocchino», ein Strandverkäufer, trinkt sein Peroni allein am Rand.

Aus schäbigen Boxen dröhnt italienischer Trap – Dreizehnjährige haben die DJ-Station gekapert. Breit sitzen sie hinterm Laptop, scrollen sich durch Youtube und schlürfen Estathé. Ab und an steht einer auf: wenn Cecès Töchter eine Ladung heisse Cornetti aus dem Ofen ziehen oder sein Stiefsohn am Grill eine neue Packung «Würstel» aufreisst.

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Bei Cecè fängt jeder Abend an, und hier hört er auch auf. Die kollektive Müdigkeit aus Nichtstun, lähmender Hitze und dem unvermeidlichen Ferienkreislauf Meer, Essen, Siesta erreicht hier ihren Höhepunkt. Es herrscht die totale Entspannung, alle wissen: Hier verpasst man garantiert nichts, es wird auch gar nichts passieren.

Das Flüstern an den Elterntischen

Was uns, die wir nicht hier leben, als paradiesische Auszeit vorkommt, ist öder Alltag für die jungen KalabresInnen. «My life is a SHIT beautiful» steht auf einem T-Shirt, «Damn Wasted Youth» auf einem andern. Die meisten sind gegangen, in den Norden, studieren. Auf die Frage, was sie so tun, antworten sie: «Troppo lavoro!» – «Besser zu viel Arbeit als gar keine», entgegnen trocken jene, die geblieben sind. Wie selbstverständlich leben sie noch bei ihren Eltern. Wer den Auszug in den Norden gewagt hat, wohnt in streng katholisch geführten StudentInnenwohnheimen oder zumindest mit den älteren Geschwistern. «Hier lebt niemand allein», sagt einer und deutet an: Ausziehen wird einhergehen mit Heirat. Und eine solche kommt einen hier teuer zu stehen. Manche müssen ihr Studium abbrechen, weil eine Hochzeit in der Familie das Ersparte aufgebraucht hat. Das Wohnen im Elternhaus hat natürlich auch Auswirkungen auf das Liebesleben der jungen Menschen. «Love forever or never» – ebenfalls ein beliebtes T-Shirt. Selbst Paare, die seit Jahren (unverheiratet) zusammen sind, müssen die Ferienmonate getrennt bei ihren jeweiligen Familien übernachten. Keusch bleiben trotzdem die wenigsten: Gerüchten zufolge gibt es im nahe gelegenen Städtchen leer stehende Zimmer, die speziell für Paare in sexueller Not eingerichtet werden. Wer so weit nicht fahren will, steigt auf den Balkon eines unvermieteten Bungalows oder sucht sich ein dunkles Plätzchen im Pinienwald.

«La pineta», sagt denn auch Luigi, «schreib über den Pinienwald!» Er lebt in Rom, als Reiseführer von Airbnb. Dort verkleidet er JapanerInnen und filmt, wie sie in Perücken über die Spanische Treppe laufen. «Und schreib über den Strand, das ist das Wichtigste! Den Rest lass weg», meint er weiter, «das Schwierige hier …»

Michelle Steinbeck

Das M-Wort wird nicht ausgesprochen. Dass das Villaggio unter Mafiaherrschaft steht, blieb selbst einem ausländischen Touristenkind wie mir nicht verborgen. Ein unbekannter Mann, der plötzlich im Garten steht und «die Steuer» verlangt; das Flüstern an den Elterntischen, sobald es um die «italienische Krankheit mit M» geht. Die Strandclubs, die jedes Jahr Namen und Personal ändern, die halb fertig gebauten Spekulationsruinen an der Hauptstrasse. Der anfänglich spannende Schauer wurde Ernst, als wir uns als Teenager mit einer Gruppe Männer, die sich später als Mafiosi herausstellten, ein Gerangel lieferten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Das Tauen der Omertà

Im letzten November gelang den Behörden der grosse Coup, die «Operazione Borderland»: Auf einen Schlag wurden 48 Mitglieder der ’Ndrangheta verhaftet – angeblich die gesamte lokale Bande. Unter ihnen ist selbst der Vizebürgermeister des Städtchens auf dem Hügel, zu dem das Villaggio am Meer gehört. Wahlkampf musste der keinen machen: Er fuhr mit dem «Boss» im Auto herum, das reichte. In einem Video des lokalen Nachrichtenportals catanzaroinforma.it sagt ein sichtlich erleichterter Oberstaatsanwalt bei der Pressekonferenz: «Sie machten das Leben unmöglich, sie machten das Leben traurig, sie raubten den Leuten das Lächeln. Nun haben wir all diese Personen verhaftet, und die Leute atmen wieder.»

Es scheint, als würde dieser Atem sogar die eisige Omertà auftauen, zumindest bei Cecè. Dieser lässt mich mitten im Gewimmel ums Backblech zusammenzucken, als er unvermittelt sagt: «‹Der Pate› ist ein schlechter Film, weil er die Jungen gelehrt hat, die Mafia sei cool. Willst du Mafiosa sein?» Auf mein geäussertes Erstaunen – «Du hast das Wort gesagt!» – reagiert er mit Wut: «Ich habe schon so viel gekämpft gegen die Mafia, schau» – er zeigt mir eine Delle an seinem kahlen Hinterkopf – «die stammt von einer Schiesserei. Und mein Auto haben sie angezündet! Aber jetzt sind sie alle verhaftet, alle weg.» Er sagt es mit einer Heftigkeit, als müsse er sich selber überzeugen: «Niemand hört mehr auf die.» Er zeigt auf die Kreise aus Plastikstühlen, auf die Kids beim Pingpongtisch und an den Töggelikästen. «Schau dir die jungen Leute an. Alle, die hier sind, sind gegen die Mafia. Sie kommen zu mir, weil sie wissen, dass ich immer gegen die war. Sie sagen es nicht, aber ich merke es daran, wie sie mit mir reden. Die mafiösen Läden müssen zumachen, weil dort niemand mehr hingeht. Die haben verloren.»

Andere sind da weniger optimistisch: «Es wird nicht besser, es wird immer schlimmer», meinen viele und entgegnen, angesprochen auf die Verhaftungen etwa: «Am Arsch – die sind nicht weg, die Nächsten stehen schon bereit.»

Dass Veränderungen stattgefunden haben, lässt sich aber nicht bestreiten: Auf Initiative einiger BewohnerInnen wurde rasch eine Kooperative gegründet, die sich das Aufpolieren des Feriendorfs auf die Fahne geschrieben hat. Als die Region noch unter der totalen Kontrolle der Banden stand, war es schwierig, selber etwas auf die Beine zu stellen. Abgesehen vom Schutzgeld, das die ’Ndrangheta den HausbesitzerInnen in den Touristendörfern, den sogenannten Villaggi, abpresste, hielt sie das Monopol auf die gesamten Waren und Dienstleistungen. «Von den Gas-Bomboloni zum Coco-Verkauf an den Stränden bis zur Wahl des Bürgermeisters: Alle mussten die Bewilligung der Mafia haben», so Giovanni Bombardieri, Oberstaatsanwalt von Kalabriens Hauptstadt Catanzaro. Damit kontrollierte die ’Ndrangheta nicht nur einen enormen Teil der Wirtschaft der gesamten Region, sie erschwerte es auch engagierten BewohnerInnen, selber gegen den Verfall des Dorfs anzukämpfen. Nun tun sie genau das: Sie rechen den Strand, füllen die Schlaglöcher, stellen Essensstände auf – und posten auf Facebook.

Als Vorbild dient die «goldene Zeit», der Boom der siebziger Jahre, als die Wirtschaft im Süden angekurbelt und das Villaggio gebaut wurde: weiss gekalkte Einzimmerbungalows, trennbar durch eine Ziehharmonikakartonwand – optimal für eine sechsköpfige Familie, die Kinder schlafen in der Küche. Damals kamen TouristInnen sogar aus dem reichen Norden, aus Mailand und Turin. Heute ist man davon weit entfernt; das Feriendorf ist über die Jahrzehnte verwildert. Die Leitungen sind so marode, dass regelmässig Wasserrohrbrüche die Strassen fluten und sie für Tage in einen Bach verwandeln. Trotz Wasserknappheit scheint es niemanden zu kümmern. Vom Spielplatz steht noch ein rostiges Gerüst ohne Schaukel; die Palmen hatten den Todeswurm – es bleiben geköpfte Pfosten. Einzig das vor wenigen Jahren eingeführte Abfalltrennsystem erfüllt alle mit Stolz. Ob die säuberlich sortierten Abfälle dann aber tatsächlich sinnvoll recycelt werden, bleibt zu bezweifeln. Schliesslich mangelt es selbst an elementaren Infrastrukturen wie einer funktionierenden Kläranlage. Daran erinnert die jeweils pünktlich zum Mittag angetriebene Schaumwelle «la schiuma»: ein Teppich aus braunen Bläschen, der alle fluchend aus dem Wasser steigen und nach Hause gehen lässt. Darüber reden ist ihnen peinlich: dass das Abwässer sind, von den Hotels, den Campings, die einfach ins Meer fliessen.

Aufwertung, Sauberkeit, Schönheit

Trotz allem scheint mehr denn je eine Hoffnung zu schwelen, dass TouristInnen kommen werden. Es könnte bergauf gehen! Dafür spricht, dass den ganzen Sommer über niemand Schutzgeld eingezogen hat. Stattdessen bittet die Kooperative zur Kasse: Fürs Abfallauflesen am Strand und im Pinienwald sammelten die Mitglieder in den vorigen Jahren noch mit einer Kaffeebüchse, von Sonnenschirm zu Sonnenschirm. Heute verlangen sie eine freiwillige Steuer von siebzig Euro im Jahr – etwa gleich viel wie das Schutzgeld der ‘Ndrangheta. Dafür bieten sie aber mehr: Sie stehen für Aufwertung, Sauberkeit und Schönheit, schreiben: «Wir machen aus dem Villaggio einen botanischen Garten!» Steht ein Müllsack auf der Strasse, der falsch sortiert und deshalb nicht abgeholt wurde, wird er sofort fotografiert und auf den sozialen Medien gepostet – die Kommentare darunter sind erbarmungslos. Mit Klatschhänden und Herzen applaudiert wird dagegen das Engagement fürs Ferienprogramm: Fussballturnier für die Jungs, Pilates für die Hausfrauen und Mädchen, Despacito-Schaumparty für die Kinder.

Wem solche Animationsprogramme nicht zusagen, denen sei zugeflüstert: Jetzt ist der Strand leer, das Wasser glasklar, und die Temperaturen sind noch immer um die zwanzig Grad. Nur zu: «Visit – call now» …

Michelle Steinbeck

Die Zürcher Autorin Michelle Steinbeck (27) wurde mit ihrem Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» (Lenos-Verlag) für den Schweizer Buchpreis 2016 nominiert.

Steinbeck arbeitet als leitende Redaktorin der «Fabrikzeitung» und lebt in Basel. Zurzeit ist sie Stipendiatin am Istituto Svizzero in Rom.