Regierungskrise: Ein Hoch auf den deutschen Dissens

Nr. 47 –

Was ist bloss los im Musterland? In fast schon penetranter Abweichung zum Rest des Kontinents war die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren ein Hort der Stabilität. Plötzlich gilt das nicht mehr. CDU, CSU, Grüne und FDP fanden trotz wochenlanger Verhandlungen nicht zusammen, Deutschland steht noch immer ohne neue Regierung da, und die Ratlosigkeit ist gross: Kommt nun doch noch eine Grosse Koalition aus Konservativen und SozialdemokratInnen? Eine Minderheitsregierung? Oder stehen gar Neuwahlen bevor?

Angesichts dieser Unwägbarkeiten fragte das deutsche öffentlich-rechtliche Fernsehen in einer Sondersendung Anfang der Woche bang: «Wer wird uns regieren?» Auf die Idee, dass es vielleicht gar nicht so schlimm ist, wenn man zur Abwechslung mal nicht regiert wird, kommen allein die InvestorInnen: Zwar verzeichnete die Frankfurter Börse nach dem Scheitern der «Jamaika»-Gespräche Einbrüche. Doch die Kurse stabilisierten sich rasch wieder – nach wie vor führt ja Kanzlerin Angela Merkel die Geschäfte, Chaos auf den Strassen droht eher nicht. Ausserdem sprudeln die Profite der deutschen Exportwirtschaft, was sich in absehbarer Zeit dank des ökonomischen Übergewichts der Bundesrepublik in der EU nicht ändern dürfte, Jamaika hin oder her.

Bemerkenswert am Berliner Spektakel ist somit vor allem, wie beflissen allseits an die «staatspolitische Verantwortung» der Beteiligten appelliert wird, ja nur rasch für stabile Verhältnisse zu sorgen. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir erklärte dies gar zu einer Frage des «Patriotismus», so als wolle er gleich mal beweisen, wie gut er sich inzwischen mit der CSU versteht. Das zeugt vor allem vom herrschenden Irrglauben, eine lebendige Demokratie verlange möglichst viele Kompromisse, weswegen auch munter auf die Liberalen eingedroschen wird, weil die die angestrebte Koalition platzen liessen.

«Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren», hatte FDP-Chef Christian Lindner den Abbruch der Gespräche begründet. Wahrscheinlich wollte Lindner damit nur als Standhaftigkeit verbrämen, was in Wahrheit opportunistisches Kalkül ist. Verwerflicher als die von den Grünen während der vorangegangenen Verhandlungen eifrig dokumentierte Bereitschaft, Prinzipien einfach über Bord zu werfen, ist das aber auch nicht.

Wenn jedenfalls der politische Betrieb in Deutschland durch den «Jamaika-Schock» (ARD) eine weitere Polarisierung erfahren sollte, ist das gewiss kein Anlass zur Trauer. Denn gerade das obsessiv auf Konsens und Harmonie getrimmte Politikverständnis ist eine der Ursachen dafür, dass die liberale Demokratie allerorten in die Defensive geraten ist. In den vergangenen Jahrzehnten waren die Unterschiede zwischen den Parteien nicht nur in Deutschland unkenntlich geworden; insbesondere sozialdemokratische Alternativen existierten allenfalls noch auf dem Papier.

Stattdessen dominierte über die politischen Lager hinweg ein technokratischer Geist, den Angela Merkel mit der von ihr erhobenen Forderung nach einer «marktkonformen Demokratie» und ihrem grenzenlosen Pragmatismus idealtypisch verkörperte. Dies wiederum spielte RechtspopulistInnen in die Hände, weil die so sich als einziges Gegenangebot zum «Parteienkartell» ins Spiel bringen konnten. Populismus beruht immer darauf, den politischen Diskurs zu polarisieren, und diese Strategie kann logischerweise nur dort aufgehen, wo erstens gesellschaftliche Widersprüche vorhanden sind (was ja der Kapitalismus zuverlässig besorgt) und zweitens solche Widersprüche unterdrückt statt angesprochen werden.

So gesehen ist es erfreulich, wenn sich Parteien wieder schwerertun, Gemeinsamkeiten zu finden. Schön auch, dass die SPD, historisch ja eigentlich Spezialistin in Sachen stabile Verhältnisse, neuerdings Widerspruchsgeist entwickelt und sich – zumindest derzeit – den Ordnungsrufen verweigert, die sie jetzt in die Pflicht einer erneuten Grossen Koalition nehmen wollen. Demokratien leben vom Dissens. Der Mangel an Differenzen, nicht deren Existenz, stärkt den Populismus.