Durch den Monat mit Reeto von Gunten (Teil 1): Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Stimme speziell ist?

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Der Radiomoderator Reeto von Gunten erzählt, warum die ersten sieben Sekunden immer für die Füchse sind, welche Leute ihn an Sonntagvormittagen anrufen – und was für einen Tipp ihm ein erfahrener Radiomacher kurz vor seiner allerersten Sendung mit auf den Weg gab.

Reeto von Gunten: «Ich frage mich immer, war­um die Hörer nicht die ganze Zeit lachen. Ich habe nichts geleistet für diese Stimme.»

WOZ: Reeto von Gunten, warum braucht es heute noch Radio?
Reeto von Gunten: Damit es nicht still ist. Stille ist für viele Leute ein grosser Wunsch, aber gleichzeitig komplett unerträglich. Radio wird gebraucht, um die Stille zu übertünchen. Es ist ein Begleitmedium, nicht ein Ort, wo man hingeht und konzentriert zuhört. Es ist überall. Als meine Nichte etwa sieben war, kam sie mich einmal in Zürich im Studio besuchen. Sie wollte von mir wissen, wie denn das gehe, dass ich überall sei: im Auto, auf der Autobahnraststätte, auf dem WC – dabei bin ich ja in Zürich. Das ist gegenwärtig die Hauptaufgabe des Radios: überall zu sein und nicht zu viel Raum einzunehmen. Zu begleiten.

Sie gehen also nicht davon aus, dass Sie die volle Aufmerksamkeit der Leute haben?
Nein. Wir wissen bei SRF auch: Bevor man etwas sagt, das ankommen soll, ist es sinnvoll, sieben Sekunden lang etwas zu sagen, das keine Rolle spielt. Die ersten sieben Sekunden sind immer für die Füchse. Obwohl sie eigentlich die spannendsten wären – da könnte man die wildesten Dinge sagen, weil es niemand merkt.

Sie müssen in sehr kurze Sequenzen sehr viel reinpacken. Schreiben Sie die Sendungen vorher?
Die ersten zehn Jahre habe ich das gemacht, Wort für Wort. Wir sind auch so geschult worden. Um für das eigene gesprochene Wort eine gewisse Sensibilität zu entwickeln, ist es sicher sinnvoll. Aber mit der Zeit kann man das immer mehr gehen lassen und mit Stichwortlisten arbeiten. Die Situation im Studio ist ja sehr speziell: Ich weiss, dass ich mit Hunderten von Leuten rede, aber ich sehe keinen. Daran muss man sich erst gewöhnen. Ich bereite mich schon vor, lese mich ein. Aber was dann passiert, passiert aus dem Moment. Ich kann nicht am Freitag aufschreiben, was ich am Sonntag sagen will.

Viele SRF-3-Hörerinnen und -Hörer sind Fans Ihrer Stimme. Haben Sie irgendwann gemerkt, dass sie speziell ist?
Nein, im Gegenteil. Ich verstehe überhaupt nicht, was an meiner Stimme schön oder angenehm sein soll. Ich frage mich immer, warum die Hörer nicht die ganze Zeit lachen. Ich habe nichts geleistet für diese Stimme. Mir wäre es lieber, wenn die Leute sagen würden, ich könne schön jonglieren. Aber das kann ich eben nicht.

Der Dialekt ist sicher auch wichtig.
Ja, es gibt Erhebungen, welche Dialekte die beste Akzeptanz haben. Da haben wir Berner wohl schon ein bisschen mehr Glück als andere. Aber das ist schon wieder etwas, wofür ich nichts geleistet habe …

Die Intimität des Radios ist am Sonntagmorgen besonders gross – man sendet an den Zmorgetisch, ins Schlafzimmer …
Mir kommt der Sonntag entgegen, weil ich selber nicht genug aufgestellt bin, um andere aufstellen zu können. Am Sonntag muss man zum Glück nicht um sechs Uhr strahlend aus dem Bett springen. Und jene, die arbeiten müssen, sind in einer aussergewöhnlichen Situation. Ich habe sehr interessante Gespräche mit Chauffeuren, mit Pistenfahrzeugfahrern oder Nachtdienstärztinnen, die ins Studio anrufen.

Bekommen Sie viele Rückmeldungen von Leuten, die am Sonntag arbeiten?
Ja. Und von Singles. Der Sonntag ist ja ein richtiger Scheisstag für Singles. Man hat niemanden, um etwas zu unternehmen, und dann macht einem der Sonntagmorgen noch ganz speziell bewusst, dass man letzte Nacht bei der Pyjamaverteilung im Club versagt hat. Und wieder alleine aufwacht. Eine Zeit lang habe ich am Sonntag mit einem Buben zusammen Radio gemacht. Wir schauten etwa die Inauguration des Papstes am Fernsehen, und er gab Kommentare ab, die ich grossartig fand. Aber die Singles hat unsere Zusammenarbeit extrem genervt: dass sie auch noch am Sonntagmorgen das Produkt von Zweisamkeit vorgeführt bekommen.

Wie melden sich die Leute?
Früher per Post und Telefon, heute auch per Mail und auf Social Media. Früher riefen manche regelmässig immer zur gleichen Zeit an, jahrelang. Da entstanden Freundschaften mit Unbekannten. Das gibt es nicht mehr – der Austausch ist flüchtiger geworden, seit er elektronisch geschieht. Aber das Telefon klingelt immer noch ununterbrochen. Viele brauchen einfach jemanden zum Reden – also reden wir, bis der Song fertig ist.

Werden Sie oft beschimpft?
Irgendwo muss man die Unzufriedenheit halt rauslassen. Da ist einer, der einem ins Schlafzimmer reinplärrt und Scheissmusik spielt, schon relativ prädestiniert. Die Unzufriedenheit ist grösser geworden, scheint mir. Aber den Wutbürger, der sich heute über Social Media äussert, gab es früher schon: Er rief an und hängte auf, nachdem er ausgeteilt hatte. Ich erinnere mich, wie mir auf dem Weg zu meiner allerersten Sendung Christoph Schwegler begegnete, der schon seit 1966 Radio machte. Er sagte: «Nachdem du das erste Mal etwas gesagt hast, spaltet sich die Nation. Die einen halten dich für ein Arschloch, und die anderen finden dich okay. Daran wird sich nie mehr etwas ändern, und du kannst es schon gar nicht ändern. Viel Vergnügen.» Das war ein sehr wertvoller Tipp, auch wenn er mich damals etwas irritierte.

Reeto von Gunten (54) ist freier Autor und moderiert (fast) jeden Sonntag den «Morgen» auf SRF 3.