Wolf: Pragmatisch sein mit grossen Tieren

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Der Wolf breitet sich weiter aus. Werden die Schäden dramatisch zunehmen wie etwa in Frankreich? Oder ist die Schweiz besser vorbereitet? Drei PraktikerInnen erzählen.

Es war ein Tag, wie ihn AlphirtInnen hassen: dichter Nebel, Schnee mitten im Sommer, die Sicht gleich null. Hirtin Lean Jabali wollte ihre Schafherde in einen anderen Teil der weitläufigen Alp Muchetta oberhalb von Bergün bringen. «Da sah ich im Nebel ein Paar Ohren, das ich nicht kannte.» Eine Wölfin stand wenige Meter vor ihrer Hütte.

Wenige Tage später sah sie die Wölfin wieder, ganz nah bei den Schafen. Diese seien nicht einmal nervös gewesen: «Die Herdenschutzhunde verhielten sich richtig: Sie versperrten der Wölfin den Weg.» Die grossen, weissen, aus den Pyrenäen oder den Abruzzen stammenden Hunde leben mit den Schafen zusammen und verteidigen sie gegen Angreifer. Fünf bis sieben von ihnen schützen die 700 bis 800 Schafe, die Lean Jabali auf der Alp hütet. Zusätzlich hält sie Hütehunde, die die Herde zusammenhalten und treiben. Da gibt es viele Ohren, die man auseinanderhalten muss.

Das schlechte Wetter blieb – bald fand die Hirtin vierzehn gerissene Schafe; vier konnte sie verarzten, die anderen waren tot. Und am Ende des Sommers fehlten weitere sechzehn.

Seit zehn Jahren arbeitet die ausgebildete Landwirtin Jabali auf Alpen – die letzten vier Sommer mit Schafen. «Ich finde Schafe extrem spannend. Auf Kuh- und Ziegenalpen hatte ich mehr Kontakt mit einzelnen Tieren – bei den Schafen geht es um die Masse. So viele Tiere, das ist eine ganz andere Herausforderung. Die Arbeit mit den Hunden ist auch sehr interessant. Und man ist den ganzen Tag draussen, das gefällt mir.»

Die Wolfsangriffe im Sommer 2016 gingen nicht spurlos an der Hirtin vorbei: «Ich bin nicht mehr gleich entspannt wie vorher. Die Gefahr, dass ein Wolf kommt, ist immer da. Die Attacken ganz verhindern kann man wohl nicht.» Aber deswegen ihren Beruf aufgeben? Das käme ihr nie in den Sinn, sagt Lean Jabali. Letzten Sommer hatte sie während des ersten Alpmonats einen Helfer. Der Anfang ist besonders schwierig, weil der untere Teil der Alp steil und bewaldet ist. «Da sind zwei zusätzliche Augen viel wert.»

«Wie in der Kriegsdiplomatie»

Seit 1995 wandern immer wieder Wölfe aus Italien und Frankreich in die Schweiz ein; 2012 hatte ein Wolfspaar am Calanda bei Chur erstmals seit der Ausrottung Nachwuchs. Inzwischen leben vier Rudel in der Schweiz, neben dem Calandarudel zwei im Wallis und eins im Tessin. Letztes Jahr wurden insgesamt 28 Wölfe in der Schweiz nachgewiesen. In Frankreich, wo schon über fünfzig Rudel leben, haben Wölfe letztes Jahr über 10 000 Schafe gerissen (siehe WOZ Nr. 50/2017 ). Droht eine solche Entwicklung auch in der Schweiz?

Ralph Manz ist ein freundlicher, lakonischer Walliser. Seit 2012 arbeitet er für das Wolfsmonitoring bei der Schweizer Grossraubtierforschungsorganisation Kora. Vorher war er Geschäftsleiter des WWF Oberwallis, hatte also auch schon mit Wolfsfragen zu tun. «Der Wolf stellt Denktraditionen und sogar menschliches Eigentum infrage. Ein Tier, das so etwas schafft, ist eine gewaltige Herausforderung für den Menschen», sagt der gelernte Förster und aktive Jäger.

Manz lebt in Birgisch oberhalb von Brig, in einer Region, die ein klares Lieblingstier hat: das Schwarznasenschaf. Verglichen mit anderen Bergregionen, leben hier nur wenige TierhalterInnen von der Landwirtschaft – umso mehr hängen sie an ihren zotteligen Tieren. Und sind entsprechend wenig erfreut über die Rückkehr der Wölfe.

Man müsse heute davon ausgehen, dass überall in der Schweiz jederzeit ein Wolf auftauchen könne, sagt Manz. Im Gegensatz zu Rudeln, die ein festes Revier haben, schweifen Jungwölfe weit umher. Besonders eindrücklich zeigte das im letzten Jahr der Rüde M75. Ende Januar wurde er im Bergell nachgewiesen, am 6. Februar in der Leventina, am 8. im Misox, am 18. in der Surselva. Dann wanderte er in nur zehn Tagen hinunter in den Thurgau, trieb sich in der Nähe des Rheinfalls herum, bevor es ihn wieder nach Graubünden zog. M75 riss immer wieder Schafe und drang sogar in einen Stall ein. Er wurde zum Abschuss freigegeben, aber verschwand – oder wurde gewildert.

«Rudel richten nicht unbedingt mehr Schaden an als Einzeltiere», betont Ralph Manz. «Das sieht man eindrücklich am Calanda. Dort wurden von 2012 bis 2016 nur 32 gerissene Nutztiere gemeldet.» Der Wolf sei klug. «Wenn auf allen Alpen Herdenschutzhunde, Zäune und Leute sind, geht er nicht so schnell ein Risiko ein. Ein Wolfspaar mit Jungen kann sich nicht erlauben, dass ein Elternteil stirbt. Das überleben die Welpen nicht.» Im Gegensatz zum Calanda seien die Schafe in der Walliser Augstbordregion schlecht geschützt gewesen: «Das Augstbordrudel riss dann auch 2016 in einem einzigen Sommer über 170 Schafe.»

Die Schweiz hat in den letzten zwei Jahrzehnten viel Erfahrung im Herdenschutz gesammelt. Dabei zeigte sich aber auch: Es gibt Alpen, auf denen Herdenschutz kaum möglich ist, weil sie zu unübersichtlich sind oder die Massnahmen zu aufwendig wären. Die landwirtschaftliche Beratungszentrale Agridea hat von 2012 bis 2014 die Walliser Schafalpen untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass sich ein Viertel von ihnen kaum schützen lässt. Sie empfiehlt, die Schafe auf den besser geeigneten Alpen zu sömmern und die Infrastruktur für HirtInnen zu verbessern. «Und was ist mit der Studie passiert?», fragt Ralph Manz. Dass es mit der Umsetzung hapere, habe wenig mit dem Wolf und viel mit den Menschen zu tun. «Wenn sich die Schafhalter zusammentun würden, wären die Herden gross genug, um Hirten anzustellen, und dafür gäbe es auch Geld vom Bund. Aber in den Bergtälern leben Familien, die seit Jahrzehnten nicht mehr miteinander reden … Um da zu verhandeln, braucht es so viel Geschick wie in der Kriegsdiplomatie. Durch die Rückkehr des Wolfes werden solche Prozesse nun angestossen.»

Wenns dem Wolf eins «butzt»

Daniel Mettler ist der Initiator und Hauptautor der Walliser Studie. Früher hat er im Pizolgebiet selbst eine Schafalp bewirtschaftet, seit 2004 leitet er die Schweizer Fachstelle Herdenschutz, die zur Agridea gehört.

«Trotz fünfzehn Jahren Erfahrung gibt es immer wieder neue Herausforderungen», sagt Daniel Mettler. «Zum Beispiel die Ziegenhaltung und die Waldweiden im Tessin. Ausgedehnte Waldweiden sind schwierig zu hüten und fast unmöglich zu zäunen.»

Genau so gross ist eine zweite Herausforderung: der Schutz der Voralpen und des Mittellandes, die auch immer mehr zu Wolfsgebiet werden. Auf den Alpen sind die Herden oft gross; es lohnt sich, Herdenschutzhunde zu halten, HirtInnen anzustellen oder beides. Im Dauersiedlungsgebiet leben jedoch Tausende von Schafen und Ziegen in kleinen Herden, die dem Wolf zum Opfer fallen können, auch in Dorf- und Stadtnähe – und wer Herdenschutzhunde hält, hat schnell einmal Streit mit lärmempfindlichen NachbarInnen. Hier müsse man auf gute Zäune setzen, sagt Mettler. Der Lerneffekt sei entscheidend: «dass es dem Wolf heftig eins ‹butzt›, wenn er das erste Mal einen Zaun berührt». Wenn die Zäune aber lückenhaft oder zu wenig elektrifiziert seien, lernten die Wölfe das Gegenteil: «Wenn sie einmal durchgekommen sind, nützen Zäune nichts mehr. Das war das Problem beim Augstbordrudel.»

Wie viele Rudel sich in der Schweiz noch bilden würden, sei unmöglich vorauszusagen. «Der Wolf folgt dem Hirsch und wird bisher nur dort sesshaft, wo viele Hirsche leben und der Nahrungsbedarf über das ganze Jahr gedeckt ist. Wir hoffen, dass das so bleibt. Der effizienteste Herdenschutz sind gesunde Wildbestände.»

Aber trotz Herdenschutz und vieler Hirsche: Ohne Abschüsse geht es nicht. «Sobald sich ein Wolf problematisch verhält, Zäune überspringt oder in Ställe eindringt wie M75, muss er weg», sagt Daniel Mettler. «Wir sind in der Schweiz mit dieser Praxis gut gefahren, auch Umwelt- und Tierschutzorganisationen akzeptieren sie.» Seit der Revision der Jagdverordnung von 2015 sind die Kantone für die Abschüsse zuständig. Wie bei Elektrozäunen gebe es auch bei Abschüssen einen Lerneffekt, sagt Mettler: «Das Augstbordrudel verhielt sich völlig anders, nachdem ein Welpe getroffen worden war. Es wurde viel scheuer.» Entscheidend sei aber, die Richtigen zu treffen: «Wenn man die Elterntiere schiesst, steigen die Schäden, weil die Jungen weniger Erfahrung bei der Jagd auf Wildtiere haben.» Ein stabiles Rudel, das wenig Schaden anrichte, sollte man auf keinen Fall stören.

Föderales Grossraubtiermanagement

Auch in der Schweiz gibt es SchafhalterInnen, die den Wolf am liebsten ausrotten würden, und Wolfsfans, die ihn idealisieren. Aber alles in allem ist die Diskussion weit weniger polarisiert als in Frankreich. Und es fällt auf, wie sich die Schadensstatistiken unterscheiden: Während in Frankreich die Zahl der Wolfsrisse jedes Jahr zunimmt, schwankt sie in der Schweiz stark. Vorläufiger Rekord waren 445 gerissene Nutztiere im Jahr 2016, was auch am Augstbordrudel lag. Letztes Jahr wurden dagegen nur 184 Risse gemeldet. «Es kann durchaus Probleme geben, wenn die Population weiter zunimmt», sagt Mettler. «Wir müssen auf Überraschungen vorbereitet sein. Unser Grossraubtiermanagement lässt föderalistischen Gestaltungsraum zu, so können wir den Zuwachs bremsen und die Schäden in den Griff bekommen.»

Vieles weist darauf hin, dass der pragmatische Schweizer Ansatz Erfolg hat. Das ist zu einem grossen Teil PraktikerInnen wie Daniel Mettler, Ralph Manz und Lean Jabali zu verdanken, die den Wolf weder verteufeln noch idealisieren. Sondern einfach ihre Arbeit machen, um Wege zu finden, damit hoffentlich beide Platz haben: Grossraubtiere und Nutztiere.