Literatur: Am toten Punkt der Zivilisation

Nr. 2 –

Was, wenn Robinson Crusoe quasi unser Zeitgenosse wäre? In der Vision des britischen Autors J. G. Ballard (1930–2009) landet er mit seinem Auto unsanft auf einer verwilderten Verkehrsinsel im Dickicht sich überschneidender Autobahnspuren vor London. Von den Strassen aus ist der Unfallwagen nicht direkt zu sehen, und unser moderner Schiffbrüchiger kann sich wegen seiner Verletzungen nur schlecht fortbewegen. Als schreiendes Menschlein humpelt er durch diesen gottverlassenen Unort der Zivilisation, von den vorbeirasenden PendlerInnen wird er einfach ignoriert. Und weil der Roman «Betoninsel» bereits 1974 erschienen ist und dank des Diaphanes-Verlags nun endlich auch auf Deutsch vorliegt, hat dieser Neo-Robinson alias Robert Maitland auch kein Mobiltelefon dabei. Seine Geliebte nimmt an, er sei bei der Ehefrau, diese wiederum meint, er sei bei der Geliebten, was zur Folge hat, dass der verunfallte Leiter eines Architekturbüros tagelang überhaupt nicht vermisst wird.

Als sich Maitland nach dem Crash im Rückspiegel betrachtet, ist ihm, «als würde er seinen eigenen psychotischen Zwillingsbruder anschauen». Hatte Daniel Defoe in seinem «Robinson Crusoe» (1719) noch die Urszene des Kapitalismus aus dem Geist von Effizienz, Zeitmanagement und Inventarlust beschrieben, entwirft Ballard seinen Maitland nicht als Gründer (oder Imitator) einer Zivilisation, sondern als deren Spielball.

Statt von der Natur wird Maitland von den menschlichen Errungenschaften überwältigt: vom eigenen sozialen Unvermögen auf seiner zur hässlichen kleinen Betonwüste geschrumpften Welt und von der antrainierten Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen. Statt emsig Ordnung zu schaffen wie sein Urahn aus dem 18. Jahrhundert, versinkt er immer weiter im Chaos seiner Triebe. Maitland wird zum Tier im Überlebensmodus, mit einer Kiste Weisswein als höchst unpraktischer Nahrung. Und wir blicken durch den Rückspiegel dieses sogar an Ballards Standards gemessen recht eigenartigen Romans direkt ins Fieberdelirium einer nur notdürftig dressierten menschlichen Natur.

J. G. Ballard: Betoninsel. Roman. Diaphanes Verlag. Zürich/Berlin 2017. 160 Seiten. 22 Franken