Von oben herab: Zürcher Blut

Nr. 2 –

Stefan Gärtner über Träume von Wien

Es ist ungewöhnlich kalt an diesem Zürcher Januarmorgen 2028, zwölf Grad plus. Ich sitze in einer der liebevoll «Fiakerli» genannten Pferdekutschen, auf dem Weg vom Bellevue zum neuen Riesenrad, dem «Riesenvelo». Mein Gesprächspartner linst auf meinen Notizblock und merkt an: «Jänner. Man sagt Jänner, nicht Januar.»

Zehn Jahre ist es her, dass die Stadt Zürich sich Wien zum Vorbild nahm, zumal was die öffentliche Wohnbauförderung anging. Die SP hielt sie für vorbildlich, die SVP und ihre Parteizeitung NZZ lehnten sie ab, weil der Staat ein Versager sei und der Markt hingegen King. «Was man damals halt so sagte», seufzt Lukas Krachovitl, der früher einmal Reto Widmer hiess, und zieht an einer elektrischen Memphis. «Früher», er lacht halb bitter, halb amüsiert. «Wie lange ist das her, dass man unter einem ‹grossen Braunen› Christoph Blocher und unter einem ‹kleinen Braunen› Roger Köppel verstanden hat?»

Vor einer Dekade wurde Wien plötzlich Kult, und heute nennen viele die Stadt an der Limmat bereits «Wiener Zweite Neustadt». Immerhin dreissig Prozent der Zürcher und Zürcherinnen wohnen mittlerweile nach Wiener Vorbild in öffentlich geförderten Wohnungen, doch das ist nicht das, was einem ins Auge (und ins Ohr) fiele, hätte man die vergangenen Jahre verschlafen. Krachovitl, der für die neue Stadtzeitung «Summervogel» Musikkritiken schreibt, wischt mit dem Zeigefinger über sein papierdünnes iPhone 18. «Kennst schon die neue von Wien West? Die isch lääss, ich meine: Die ist leiwand!» Er wird rot. «Ich finde allerdings, dass ‹Ja, keine Panik› kein guter Bandname ist. Auch wenn es sicherlich ein extrem schweizerischer Bandname ist.»

Krachovitl ist Hipster und auch bei diesem Trend von Anfang an dabei gewesen. «Ich weiss noch, wie ich meine erste Powidltasche gekauft hab. Aussen zart braungelb, innen dunkelviolett, zum Anbeissen, ich musste einfach eine haben! Schön, Natel und Portemonnaie musste ich nach dem ersten Tragen wegschmeissen, alles voller Pflaumenmus, aber das wars mir natürlich wert.» Als wir um die Ecke biegen, passieren wir eine Demonstration, grimmig dreinschauende Menschen halten selbstgemalte Schilder in die Höhe: «Kein Schümlikaffee? Wir schäumen!!» und «Cervelat statt Tafelspitz!» und «Schlag den Schlagobers!». «Die breite Masse hat viele Sachen nie mitgetragen», bedauert Krachovitl, «gerade im Foodbereich. Dabei schmeckt so ein Wiener Geschnetzeltes doch eigentlich okay.» Er wischt wieder auf seinem Telefon herum, das in einer rot-weissen Schale steckt: Streifen, kein Kreuz.

Krachovitl bemerkt meinen Blick. «Swissness, naa, bittschön, die war doch längst out. Austrianess, dös is es! Es gibt aber», er streicht sich durch den Bart, «gewisse Tendenzen, zum Alten zurückzukehren. Retro, vastehst! Und auf dem Weg dahin ergibt sich dann echt geiles Crossover.» Krachovitl lässt sein Natel Falcos alten Hit «Wiener Blut» spielen, bloss dass der Text etwas anders geht: «Zürcher Blut / In diesem Saft die Kraft, die Zürcher Glut / Die sagt: Gemach, gemach, nun ist es gut / Weil man erkennen tut / Es gibt da Medizin / Wir wollen Ruhe, Ordnung und nicht Wien …»

«Stark», lüge ich und will wissen, wo der Widerstand am stärksten war. Krachovitl muss nicht lange überlegen: «Beim Militär. Wobei ich das nicht verstehe: Sperrfeuer aus der Würstelgulaschkanone, da läuft mir doch das Wasser in der Goschn zusammen!»

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.