Regierungskrise im Iran: Der oberste Führer ganz unten

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Die jüngste Protestwelle hat deutlich gemacht, wie sehr das iranische Regime in einem politökonomischen Dilemma steckt. Die Krise ist noch längst nicht vorbei.

Am Sonntag liess die paramilitärische Revolutionsgarde verlautbaren, die Proteste seien nach etwas über einer Woche zu Ende. Diese hatten sich innerhalb weniger Tage in achtzig iranischen Städten ausgebreitet; Zehntausende waren auf den Strassen. Die Sicherheitskräfte sorgten für Ruhe, indem sie nach offiziellen Angaben 3700 Menschen verhafteten und überall im Land Präsenz markierten. Mindestens 25 Menschen wurden in den Strassen getötet, mehrere starben im Gefängnis.

Ist die jüngste Phase des Widerstands also schon wieder Geschichte? «Nein, keinesfalls», meint der iranische Menschenrechtsaktivist Nima Pour Jakub. «Natürlich gibt es wegen der Repression im Moment keine grossen Demos. Aber an einzelnen Orten flackern weiterhin Proteste auf, und vor allem werden die Gründe für die weitreichende Unzufriedenheit nicht einfach verschwinden.» Gemäss einem Regierungsvertreter sind neunzig Prozent der Verhafteten jünger als 25.

«Ich hatte selbst keine Hoffnung mehr in die junge Generation», sagt Jakub. Der Dreissigjährige sass 2011 als aktivistischer Student monatelang in Täbris in geheimdienstlicher Isolationshaft und wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, worauf er in die Schweiz floh. «Die jüngeren Studierenden schienen sich mit dem Regime zu arrangieren. So handelt es sich heute nicht um eine Bewegung mit eindeutigen politischen Forderungen, sondern um die Wut einer Generation, die in materieller Not lebt und keine wirtschaftliche Zukunftsperspektive hat.»

Milliarden für den Syrienkrieg

In der Tat hat die Protestwelle sichtbar gemacht, wie marode die Ökonomie ist. Nach dem Ende der meisten Sanktionen nach Abschluss des internationalen «Atomdeals» 2015 begann sie zwar, nach langer Rezession wieder zu wachsen. Doch die meisten der über achtzig Millionen EinwohnerInnen spüren bis heute nichts davon. Denn die Wirtschaft wird zu einem grossen Teil von korrupten staatlichen Kartellen kontrolliert – etwa zur Hälfte durch die Revolutionsgarde, die direkt dem obersten Führer unterstellt ist und selbst über die Gewinne verfügt.

Siebzig Prozent der IranerInnen leben unter der nationalen Armutsgrenze, die Lebenshaltungskosten haben in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel stärker zugenommen als das Durchschnittseinkommen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt offiziell zwanzig Prozent, wird aber durch das Universitätssystem, in dem Millionen junger IranerInnen in Bachelorstudiengängen «versorgt» werden, künstlich tief gehalten; Studien schätzen die reale Jugendarbeitslosigkeit auf 45 Prozent.

Ähnlich triste Wirtschaftszahlen gibt es auch anderswo. Doch die IranerInnen können dafür leicht die eigene Regierung verantwortlich machen – gerade da diese seit dem «Atomdeal» eigentlich wieder die Mittel für eine wirksame Wirtschafts- und Sozialpolitik hätte. Kurz vor der Protestwelle hat die Regierung das neue Staatsbudget mit einem Rahmen von 120 Milliarden Franken verkündet. Zum Vergleich: Das Jahresbudget der zehnmal kleineren Schweiz beträgt 67 Milliarden Franken. Dass davon dann auch noch offiziell 21 Prozent in den Militär- und Sicherheitsapparat fliessen sollen, war in den Social Media ein grosses Thema.

Dies wurde auch zu einem zentralen Anliegen der Proteste: Die Regierung solle sich endlich um die eigene Bevölkerung kümmern, anstatt die staatlichen Mittel in aussenpolitischen Abenteuern zu verpulvern. Allein die Ausgaben in Syrien betragen seit Kriegsbeginn mindestens sechs Milliarden Franken pro Jahr; es gibt auch Schätzungen, wonach der Betrag dreimal so hoch sein soll.

Das Ende des Regimes?

Die Regierung, in der sich sogenannte Reformer und Konservative schon länger einen Machtkampf liefern, sucht noch immer nach einem Weg, den Widerstand zu entschärfen – und zwar ohne den bisherigen aussenpolitischen Kurs zu gefährden, in dem sich alle Kräfte einig sind. Denn einerseits ist die Einflussnahme in der Region zentral für den Machterhalt des Regimes, andererseits wäre eine allzu blutige Repression ein zusätzliches Argument für den US-Präsidenten, den «Atomdeal» fallen zu lassen. Zusätzliche Sozialprogramme über eine Verschuldung zu finanzieren, ist praktisch ausgeschlossen: In dieser Hinsicht bestehen noch immer Sanktionen. Selbst die Regierung in Beijing scheint sich dem Druck der USA zu beugen und ist seit zwei Monaten dabei, iranische Vermögenswerte in China zu sperren.

Präsident Hassan Rohani vom reformistischen Flügel versuchte deshalb, von seinen nicht umgesetzten wirtschaftspolitischen Versprechen abzulenken, indem er die Proteste auf einmal öffentlich als «Gelegenheit» interpretierte, um «soziale und kulturelle Reformen» umzusetzen. Sein wichtigster konservativer Gegenspieler, das Staatsoberhaupt Ali Chamenei, sucht hingegen immer noch eine Antwort auf die Vorkommnisse. Der oberste Führer konnte kaum ignorieren, dass sein Konterfei von den Massen in allen Landesteilen zerrissen und zertrampelt wurde, begleitet von den Rufen «Tod dem Diktator».

«Es ist möglich, dass Erzkonservative in Maschhad die Proteste angestossen haben, um Rohani zu schwächen», sagt Nima Pour Jakub. Falls dies der Fall war, haben sie sich aber stark verrechnet. Stattdessen starteten sie ein Spiel, das sie nicht mehr selbst beenden können. Die Dynamik hat das Regime in eine tiefe Krise gestürzt. Nicht nur Rohanis Reformprojekt scheint an ein Ende gekommen zu sein, auch Chamenei hat offensichtlich die Kontrolle verloren.