Christinnen in Syrien: Im Glauben an eine bessere Zukunft

Nr. 9 –

Vier Jahre IS-Diktatur und ständiger Bombenhagel: Kausar Muslim ist eine der letzten christlichen BewohnerInnen von Rakka. Auch jetzt, wo ihre Wohnung wenig mehr ist als eine Ruine, will sie die Stadt am Euphrat nicht verlassen.

«Und dann kam dieser ­schreckliche Einschlag»: Kausar Muslim wohnt in einem Haus, das von einer Rakete getroffen wurde.

Pünktlich um halb zehn Uhr morgens schiebt Hovsep Berejiklian die Metallrollläden nach oben und schliesst die Eingangstür seiner Apotheke im Stadtzentrum von Rakka auf. Bevor sich der Armenier hinter den Verkaufstresen stellt, blickt er kurz zum kleinen Marienbild an einem der Regale und bekreuzigt sich. Wenig später stehen schon die ersten KundInnen vor ihm. Die einen wollen Kopfschmerztabletten, andere Hautcrèmes oder etwas gegen Erkältung. Nicht alle können bezahlen. In solchen Fällen verschenkt der erst 22-Jährige die Medikamente einfach. «Sie haben eben kein Geld», sagt er schulterzuckend, «da kann man nichts machen.»

Nach Schätzungen sollen etwa die Hälfte der zwei Millionen syrischen ChristInnen seit Beginn des Bürgerkriegs geflohen sein. Zwar ist Rakka, die ehemalige Hauptstadt des Kalifats des sogenannten Islamischen Staats (IS), im Oktober befreit worden, doch von den geflüchteten christlichen BewohnerInnen ist fast niemand zurückgekehrt. Hovsep Berejiklian ist einer der letzten ChristInnen in der Stadt am Euphrat – einer der wenigen, die nicht vor den Dschihadisten geflohen sind. Sie überlebten die vierjährige IS-Diktatur und die ständigen Bombenschläge aus der Luft – zuerst von Flugzeugen des syrischen Regimes und seines russischen Verbündeten, später von US-amerikanischen Kampfflugzeugen, die ebenfalls viele ZivilistInnen töteten. «Alle haben ihre Bomben über Rakka abgeworfen», sagt Berejiklian, der selbst bei einem der Angriffe sein Haus verlor.

Mit zitternder Hand zündet er sich eine Zigarette an. Dann aber schmunzelt der Armenier, fast so, als seien die letzten vier Jahre ein Spaziergang gewesen. «Ich hatte weder Angst vor den Islamisten noch vor den Bomben», behauptet der junge Mann in seiner grauen Jacke und dem schwarzen Pullover. Er deutet auf das Marienbild am Regal und bekreuzigt sich wieder. «Mit Gottes Hilfe überwindet man alles.» Trotz seines starken Glaubens steht ihm der Horror des IS-Kalifats noch ins Gesicht geschrieben. Die dunklen Augen funkeln nervös und strahlen Verzweiflung aus. Es wäre ein Wunder, wenn er nicht traumatisiert ist. «Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte», sagt Berejiklian. «Die Flucht zu meiner Familie nach Hamburg oder Zürich konnte ich mir nicht leisten. Also bin ich in Rakka geblieben.» Erneut betritt eine Frau mit schwarzem Kopftuch, die bedient werden muss, die Apotheke.

«Hier ist kein Leben mehr»

Als Christ musste Berejiklian unter der IS-Herrschaft die jährliche Steuer Dschisia bezahlen – eine Art Schutzzoll, der noch auf die Anfangszeit des Islam zurückgeht. Als Alternativen wären ihm nur die Konvertierung oder der Tod geblieben. «Sie haben 500 Euro verlangt», erinnert sich der junge Mann, der mit seiner Mutter zusammenlebt. «Wenn wir bezahlten, wurden wir vom IS in Ruhe gelassen.» Gefährlich sei es erst geworden, als ihr Haus ausgebombt wurde. Mutter und Sohn mussten in Untermiete und hatten nicht mehr genug Geld, um die Dschisia zu bezahlen. Die Islamisten akzeptierten jedoch eine Ratenzahlung, und sie plünderten mehrmals die Apotheke.

Seit vier Monaten ist der Albtraum nun vorbei. Doch in der Innenstadt von Rakka ist so gut wie kein Haus, das nicht beschädigt wurde. Noch immer gibt es keine Elektrizität und kein fliessend Wasser. Die drei Kirchen der Stadt sind allesamt zerstört. «Hier ist kein Leben mehr», meint Berejiklian frustriert. «Kein eigenes Heim mehr, keine Weihnachten und keine Freunde», klagt er. «Und auch kein Whisky», fügt er dann schmunzelnd an. Lieber heute als morgen würde er Rakka verlassen. «Wir sehnen uns nach europäischer Kultur», sagt er. Aber woher solle er das Geld nehmen? Mindestens 10 000 Euro kostet der Weg, den schon Hunderttausende syrische Flüchtlinge über die Türkei und Griechenland genommen haben.

Auf dem Weg zum berüchtigten Niamplatz, auf dem der IS früher seine öffentlichen Exekutionen vollzog, steht Afendi Abu Sau zwischen den Ruinen in einer Seitenstrasse. Der 59-jährige Armenier hat gerade noch einmal seine zerbombte Wohnung inspiziert. «Alles kaputt, alles verloren», sagt er kopfschüttelnd und fährt sich nachdenklich durch seinen weissen Bart. Beim Einschlag einer Bombe sind seine Frau und eins von insgesamt sechs Kindern ums Leben gekommen.

Auch Abu Sau bezahlte Dschisia an den IS. Zwischen 200 und 300 Euro im Jahr, wie er kurz nachrechnet. «Als kein Geld da war, mussten wir ihnen die Eheringe und den Schmuck meiner Frau geben.» Auch er bestätigt, dass ihn die Dschihadisten dafür in Ruhe liessen. «Mehr oder weniger», fügt er hinzu. «Auf der Strasse machten sie einen Bogen um uns Christen, um nicht mit Kuffar, Ungläubigen, in Berührung zu kommen.»

Abu Sau führt zu einem Gebäude, von dem nur zwei kleine Räume einigermassen intakt geblieben sind. Der Rest ist ein Haufen von Betonbrocken und Eisenteilen. Auf einem Kabel als Wäscheleine, das an einem kaputten Fenster und einer schiefen Betonsäule befestigt ist, hängen Pullover und eine Decke. «Hier lebt meine Freundin», erzählt er.

45 Euro für den IS

Kausar Muslim, die Freundin von Abu Sau, haust zwischen den Trümmern. «Überall im Haus waren IS-Kämpfer», sagt sie und deutet auf einen Schutthaufen, der einmal eine Terrasse gewesen sein soll. «Von hier haben sie mit einem Duschka-Maschinengewehr geschossen, bis die Rakete einschlug.» Ganz hinten im Gebäude habe sie sich verkrochen. «Mein Herz hat wie wahnsinnig geklopft vor Angst», sagt die 67-jährige Frau mit langem Kopftuch, die ebenfalls aus Armenien stammt. «Und dann kam dieser schreckliche Einschlag, ein unvorstellbarer Lärm.» Ihre Wohnung wurde vom austretenden Wasser überschwemmt, das erst nach fünf Tagen ablief. «Alles war feucht und faulig», schildert sie. An den IS hatte sie umgerechnet 45 Euro im Jahr abgeben müssen. «Sie wussten, ich bin arm, da ist nicht viel zu holen.» Weg aus Rakka will Muslim nicht, obwohl zwei ihrer Kinder in der Türkei und eines in Deutschland leben. Sie glaube an eine bessere Zukunft, sagt sie.

Diese wird es in Rakka für die ChristInnen wohl nicht mehr geben. Ein weiteres Stück einer 2000 Jahre alten Kultur des Nahen Ostens wird dann verschwunden sein. Zum Abschied winkt die Armenierin zwischen den Säulen ihrer Ruine.