Grundrechte in der Türkei: Staatsfeind wegen einer Unterschrift

Nr. 9 –

Weil er zum Frieden mit den KurdInnen aufrief, wirft die türkische Justiz Sharo Garip Terrorpropaganda vor. Zwei Jahre lang durfte er die Türkei nicht verlassen, jetzt lebt er in Deutschland. Doch der nächste Gerichtstermin steht schon an.

Die Freiheit, sie ist noch ungewohnt. «Ich bin zwar körperlich hier, doch seelisch bin ich immer noch gefangen», sagt Sharo Garip. Der deutsche Sozialwissenschaftler spaziert an einem Februartag durch Neuchâtel. «Erst wurde ich verfolgt, weil ich Kurde bin, dann, weil ich Deutscher bin», sagt der 52-Jährige. Die Freiheit, sie fühlt sich noch irreal an. Denn freigesprochen wurde Garip noch nicht.

Rückblick: Mitte Dezember in Istanbul, an einem Sonntag, da steckt der Wissenschaftler mit der eckigen Brille und den Dreadlocks noch in der Türkei fest. «Ich bin erschöpft von der Jagd», sagt er in einem Café in der Millionenmetropole. Seit rund zwei Jahren darf er nicht mehr aus der Türkei ausreisen, in zwei Tagen findet sein erster Gerichtstermin statt. Es könnte sein, dass Garip dann für sieben Jahre ins Gefängnis muss. So hoch ist die Strafe, die die Staatsanwaltschaft für seine Unterschrift fordert. In seiner Tasche, die er fest an sich drückt, hat er seine Verteidigungsrede. Es gebe keine Beweise, dass er die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK unterstütze, steht da. «Ich weise die Vorwürfe entschieden zurück», lautet der letzte Satz. Aber das sieht die türkische Justiz anders.

Sharo Garip arbeitet in der ostanatolischen Stadt Van als Dozent an der Universität, als er im Januar 2016 die Petition «Akademiker für den Frieden» unterschreibt, in der die UnterzeichnerInnen das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten kritisieren und eine friedliche Lösung des Konflikts fordern. Binnen Stunden wird Garip fristlos entlassen, es wird ein Ausreiseverbot verhängt. «Man kann in diesem Land für alles Mögliche Petitionen unterzeichnen. Aber nicht für Kurden», sagt er.

Zurück ins Geburtsland

Geboren und aufgewachsen ist er im zentralanatolischen Konya. Die Garips sind eine mittellose Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn. Vater und Mutter warnen ihn: Er solle niemals sagen, dass er Kurde sei – zu gross ist die Angst vor staatlicher Verfolgung. Er dagegen engagiert sich für die «kurdische Sache». «Es war sehr schmerzhaft für mich, dass ich meine Identität verstecken sollte.» Gerade einmal 23 Jahre alt, muss er für sieben Tage in Untersuchungshaft. Darüber sprechen will er nicht. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen ihn. Der Vorwurf schon damals: Propaganda für die PKK.

Als politischer Flüchtling gelangt er Anfang der neunziger Jahre nach Köln. Er beginnt dort ein Studium, wird eingebürgert, gibt den türkischen Pass ab. Endlich die ersehnte Freiheit, sagen zu können, dass er Kurde ist. Das Thema lässt ihn nicht los und führt ihn schliesslich wieder zurück in sein Geburtsland. Garip will Teil des türkisch-kurdischen Friedensprozesses sein.

So folgt er 2014 dem Ruf der Universität Van und wagt sich an heikle Themen: ethnische Konflikte, Nationalismus, soziale und wirtschaftliche Strukturen in Südostanatolien. Seine Familie ist nicht einverstanden, zu ängstlich, dass der Wind sich drehen könnte. Und das, obwohl der Vater AKP-Anhänger ist. Druck und staatliche Verfolgung kenne er schon, denkt der Sohn. Was sollte noch geschehen? Nach der Politik der verbrannten Erde, als die Regierung in den neunziger Jahren im Südosten der Türkei Tausende kurdische Dörfer in Schutt und Asche legte, setzt unter dem jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zunächst eine Neuausrichtung ein.

Doch die Zeiten ändern sich wieder, als 2015 die Oppositionspartei HDP ins Parlament einzieht. Garip kritisiert den Staat für seine KurdInnenpolitik – und ahnt nicht, wie gnadenlos die AKP-Regierung nun zuschlagen würde. Ja, er sei naiv gewesen, räumt Garip ein.

Verwirrt und verloren

Es folgen zwei Jahre der Ungewissheit und der Wut. Garip zieht von Van nach Istanbul, bekommt aus Deutschland Sozialhilfe überwiesen, lebt im Armenviertel Tarlabasi. FreundInnen distanzieren sich von ihm, sie wollen nicht in Sippenhaft genommen werden. «Ich wurde meines Lebens beraubt. Arbeitslos, kaum Geld, keine Perspektive.» Garip redet sich in Rage, schimpft auf die deutsche Regierung. Dann verabschiedet er sich an diesem Sonntagabend in Istanbul mit der Gewissheit, in 48 Stunden vielleicht für mehrere Jahre hinter Gitter zu müssen.

Doch die drei Richter heben die Ausreisesperre auf. «In dem Moment fühlte ich mich, als hätte ich Flügel.» Wenige Tage später fliegt er nach Köln.

Und jetzt? In Neuchâtel ist es nun gegen Abend, der Sozialwissenschaftler wirkt immer noch irritiert. «Meine Gedanken sind in der Türkei. Wir Kurden sind immer die Opfer», er spricht vom türkischen Einmarsch in Nordsyrien. Der nächste Gerichtstermin ist am 9. April, er wird nicht mehr zurück in die Türkei fliegen. Einen konkreten Plan für die Zukunft hat er noch nicht. Sicher ist, dass er im nächsten Semester an der Universität in Duisburg eine Vorlesung über die Geschichte der Türkei halten wird, die Universität Köln hat ihm für einige Monate ein Stipendium gegeben.

«Als Kurde bin ich es gewohnt, dass ich etwas anfange und dann gewaltsam unterbrochen werde», sagt er. Sein Nachname Garip heisst übersetzt «seltsam». Es lässt sich aber auch mit «verwirrt» oder «verloren» übersetzen.