Chinas Autoritarismus: Ein Buch und fünf Entführungen

Nr. 10 –

Der Hongkonger Buchhändler Lam Wing-kee wurde 2015 vorübergehend von chinesischen Beamten entführt. Sein Verbrechen: Er hatte Bücher an ChinesInnen verkauft.

Buchhändler, das ist normalerweise ein eher unspektakulärer Beruf, den man wählt, weil man sich für Bücher interessiert. So war das auch bei Lam Wing-kee. «Seit meiner Jugend liebe ich es zu lesen», sagt der Sechzigjährige mit der runden Brille mit zurückhaltender, fast scheuer Stimme. Um sein Hobby zum Beruf zu machen, gründete er 1994 Causeway Bay Books, einen kleinen Buchladen, der etwas versteckt im ersten Stock in einer Hongkonger Einkaufsstrasse liegt. Die frühere britische Kolonie mit ihren über sieben Millionen EinwohnerInnen hat innerhalb der Volksrepublik China einen Autonomiestatus, der ihre minimale demokratische Ordnung garantieren soll.

Zwanzig Jahre lang nahm bei Lam Wing-kee alles seinen normalen Gang. 2014 verkaufte er sein Geschäft an einen Verlag namens Mighty Current und blieb dort als angestellter Buchverkäufer. Ein Jahr später verschwanden fünf Mitarbeiter des Ladens und des Verlags – einer nach dem anderen innerhalb weniger Wochen. Von Lam Wing-kee fehlte am 24. Oktober 2015 als Drittem jede Spur. Irgendwann tauchten alle fünf wieder auf, Lam nach acht Monaten in Hongkong. Gegenüber Medien gab er zu Protokoll, dass er von chinesischen Beamten in die über tausend Kilometer von Hongkong entfernt liegende Küstenstadt Ningbo entführt worden sei, wo er in Isolationshaft gehalten und von Teams der «zentralen Ermittlungsgruppe» befragt worden sei. Das ist eine Institution aus Zeiten der Kulturrevolution, die direkt an die zentrale Führung unter Präsident Xi Jinping rapportiert.

Kampf gegen Kulturgüter

Dass es Hongkonger Buchhändler von unscheinbarer Existenz zu hochrangigen Feinden einer Weltmacht bringen können, erfuhr die Öffentlichkeit allerdings schon vor der Freilassung: Im Februar 2016 erschienen Lam und drei weitere der verschwundenen Buchhändler im chinesischen Staatsfernsehen, wo sie ihrer Reue darüber Ausdruck gaben, illegale Bücher an KundInnen auf dem «Festland» geliefert zu haben. Als Festland wird China ohne Hongkong, Macau und die abtrünnige Insel Taiwan verstanden. Zwar war Lams Reuebekundung erzwungen, aber tatsächlich hatte er auch politische Ziele verfolgt: «Ich glaube an einen kulturellen Einfluss der Bücher», sagt Lam am Rand eines Genfer Menschenrechtsgipfels. «Ich hoffte, dass sich die Menschen auf dem Festland gegen den Autoritarismus auflehnen.»

Über ein halbes Jahrhundert nach der Kulturrevolution, bei der im Namen eines reinen Kommunismus Hunderttausende getötet und Millionen gefoltert worden waren, geht es der chinesischen Führung heute um den Kampf gegen subversive Kulturgüter – und wohl auch darum zu testen, wie weit sie ihr repressives System in ihrem regionalen Einflussgebiet und gegenüber anderen StaatsbürgerInnen ausdehnen kann. Zwei der Buchhändler haben europäische Pässe, und einer von ihnen wurde wohl vom chinesischen Geheimdienst in Thailand entführt und über Kambodscha nach China geschafft.

Überdies ist die Geschichte längst nicht vorbei. Causeway Bay Books bleibt verriegelt. Und Gui Minhai, der führende Kopf hinter dem Mighty-Current-Verlag, der einen schwedischen Pass besitzt und der eine Woche vor Lam in der thailändischen Touristenstadt Pattaya entführt worden war, ist diesen Januar in einem Zug kurz vor Beijing erneut festgenommen worden – pikanterweise unter den Augen zweier schwedischer Diplomaten, die ihn Gerüchten zufolge ausser Landes schaffen wollten. Seither herrscht zwischen Stockholm und Beijing eine diplomatische Krise; auch die EU und die USA fordern Guis Freilassung.

Fürchtet Lam Wing-kee nicht ein ähnliches Schicksal, wenn er in Hongkong bleibt? «Nicht wirklich», sagt er. Nicht er, sondern Gui Minhai sei die Hauptperson dieser Geschichte. «Gui begann vor Jahren, kritische Bücher über die chinesische Führung zu publizieren. Zuerst waren das seriöse Abhandlungen, aber um Geld zu machen, immer öfter billige Gerüchtesammlungen. Zuletzt veröffentlichte Gui das Schreiben von Xi Jinping an die Kommunistische Partei, in dem er ein geheimes Liebesverhältnis zugibt.»

Auf die Frage, ob dieses Schreiben des Präsidenten echt sei, will Lam nicht antworten. «Dieses Buch war dafür verantwortlich, dass wir alle festgenommen wurden», sagt er allerdings. «Es heisst, Gui habe nach seiner bedingten Freilassung versucht, die Rechte an dem Buch weiterzuverkaufen. Deswegen haben sie ihn wohl wieder gefasst.»

Unabhängigkeit als Idee

Inzwischen ist Lam nicht mehr ganz so hoffnungsvoll, dass er die FestlandchinesInnen mit seinen Büchern direkt beeinflussen kann. «Ich kämpfe jetzt für die Unabhängigkeit Hongkongs und auch Taiwans.» Lam ist gerade daran, in Taiwans Hauptstadt Taipeh seinen Buchladen wiederzueröffnen.

«Ich meine damit nicht unbedingt politische Unabhängigkeit», fährt Lam fort. «Es geht um die Idee von Unabhängigkeit. Bücher helfen einem dabei, unabhängig zu denken. Irgendwann wird diese Idee auch aufs Festland überschwappen.»