Indiens Hindunationalisten: Im Namen der Kuh

Nr. 11 –

Bis 2021 soll Indien frei von MuslimInnen und ChristInnen sein, fordern extreme HindunationalistInnen. Narendra Modis Regierung toleriert die Pogrome selbsternannter «Kuhschützer».

Zuerst will niemand helfen, als wir nach dem nahe gelegenen Weiler Khandawali fragen. Ein Verkäufer schüttelt den Kopf, Wartende an einer Bushaltestelle zucken mit den Schultern, ein Mann in einem Handyladen gibt sich unwissend. Schliesslich bekommen wir doch noch einen Hinweis: «Am Stadtrand findet ihr sicher jemanden mit Bart und Takke» – der muslimischen Gebetsmütze. Guter Tipp. Dort weiss ein Bärtiger sofort, was wir wollen: «Ihr sucht das Haus von Junaid Khan, der im Zug getötet wurde? Ich kann euch hinfahren lassen.»

«Innerhalb einer halben Stunde war alles vorbei», erzählt Hashim Khan, einer der fünf älteren Brüder von Junaid, im oberen Stock des baufälligen Hauses. Er sass im vergangenen Sommer mit Junaid und zwei Freunden im Zug von Neu-Delhi nach Ballabhgarh, einer benachbarten Stadt im Bundesstaat Haryana, als fünfzehn Männer den Waggon betraten, den vier Jugendlichen die Sitzplätze streitig machten, an ihren Bärten rissen und sie als «Kuhfresser» beschimpften. Es kam zum Handgemenge. «Plötzlich hat einer ein Messer gezogen und Junaid in die Brust gestochen», sagt Hashim Khan. «Beim nächsten Bahnhof haben sie uns aus dem Zug geworfen.» Junaid sei in seinen Armen verblutet.

«Unsere Welt ist zusammengebrochen», sagt Junaids Vater, Jalaluddin Khan, während ihm die Tränen über die Wangen laufen. «Ich habe einen Herzinfarkt bekommen, meine Frau leidet immer noch unter dem Schock – wir können nicht mehr arbeiten.» Junaid sei ein guter Junge gewesen, er habe den Koran auswendig gekonnt, wollte Priester werden. Immerhin: Der Haupttäter sei nach zwei Wochen von der Polizei gefasst worden.

Kuhschützer gegen Tierwohl

Im Fall von Pehlu Khan, einem Milchbauern, war das anders. Hundert Kilometer westlich von Khandawali, immer noch im Bundesstaat Haryana, treffen wir im vorwiegend muslimischen Dorf Jaisinghpur auf seine Hinterbliebenen. «Die Polizei hat alle Verdächtigen wieder laufen lassen», sagt Khans Sohn Muhammad Arif. Pehlu Khan war im Frühsommer 2017 mit sechs Männern in Jaipur im Bundesstaat Rajasthan, um Kühe und Kälber zu kaufen. Auf dem Rücktransport wurde er von neun jungen Männern auf Motorrädern gestoppt. «Wir zeigten ihnen die Kaufpapiere, die belegen, dass wir die Tiere für die Milchproduktion erworben hatten», sagt Irshad Khan, Pehlu Khans ältester Sohn, der damals dabei war. Trotzdem habe die Gruppe angefangen, auf sie einzuprügeln. Und innert kurzer Zeit sei eine etwa 150-köpfige Menge mit Stöcken und Eisenketten dazugestossen. Am Schluss lagen die Muslime schwer verletzt am Boden; Pehlu Khan starb nach zwei Tagen an seinen Verletzungen. Nur einer entkam dem Lynchmob: der Fahrer des Viehtransporters, ein Hindu. Diesen hatten die Angreifer weggeschickt.

Obwohl es viele ZeugInnen gab und jemand die Tat an der Hauptstrasse zwischen Jaipur und Delhi gar mit dem Handy gefilmt hatte und das Video im Internet zirkulierte, stellte die Polizei von Rajasthan die Ermittlungen schnell wieder ein, aufgrund von entlastenden Aussagen Gleichgesinnter. Mehr noch: Rajasthans Innenminister Gulab Chand Kataria beschuldigte Pehlu Khan des Viehschmuggels und pries die Wachsamkeit der Bevölkerung. Sadhvi Kamal Didi, Präsidentin der Nationalen Kuhschützerbrigade – einer Organisation mit guten Kontakten zur national regierenden Volkspartei Bharatiya Janata Party (BJP) –, lobte den Einsatz gegen die «Kuhmörder»: Die Kuhschützer seien «Freiheitskämpfer», die bald «als Helden gefeiert werden».

«Wo bleibt da die Gerechtigkeit?», fragt Khans Sohn Muhammad Arif. «Die Polizei hat gegen uns ermittelt und nicht gegen die Angreifer. Wir sind von ihr und dem ganzen System verraten worden.» Das sieht auch Kavita Srivastava so, Präsidentin der People’s Union for Civil Liberties, einer grossen Bürgerrechtsorganisation: «Die Polizei schützt die Täter, ihre Voreingenommenheit ist eklatant.»

In der Region rund um Jaisinghpur ist die Angst mit Händen zu greifen. Viele Bauernfamilien haben die Milchwirtschaft aufgegeben; nach Khans Ermordung wurden innerhalb einer Woche über 42 000 Kühe und Kälber freigesetzt. Manche hatten die Behörden eingesammelt und vorübergehend in Ställen untergebracht, die meisten aber streunten ohne Futter und Wasser umher, viele verendeten in der Sommerhitze. Wenn die Regierung nichts gegen Angriffe auf Viehzüchter unternehme, werde man das übrige Vieh (schätzungsweise 900 000 Tiere) vor die Ämter treiben, drohen jetzt die VertreterInnen der Meo, einer muslimischen Volksgruppe in Haryana.

Auch viele andere sind wütend. Ein muslimischer Restaurantbesitzer sagt, dass bei ihm regelmässig die Polizei ins Lokal stürme, unterstützt von Mitgliedern der 5000-köpfigen Kuhschützerbrigade von Haryana. «Sie beschlagnahmen die fleischhaltigen Mahlzeiten, fragen nach dem Inhalt, nehmen das Essen mit – und verzehren es hinterher. Wie soll man da noch ein Geschäft führen?» Der Polizei und den Hooligans gehe es doch gar nicht um das Rindfleisch, vermutet er: «Sie wollen nur alle einschüchtern, die ihre Ideologie nicht teilen.»

Dass es den Kuhschützern nicht ums Tierwohl geht, zeigt das Beispiel Rajasthan. Dort ziehen nach Behördenangaben 13,3 Millionen im Stich gelassene Rinder durch die Gegend, und niemand kümmert sich um sie – abgesehen vom Hingonia Cow Rehabilitation Centre in Jaipur, einer zivilgesellschaftlichen Einrichtung, die zurzeit 9000 Rinder betreut. Doch ihr fehlen die Mittel. «Jeden Tag krepieren dreissig Tiere», berichtet Uma Shankar, der im Zentrum arbeitet, «weil wir sie nicht pflegen können, weil sie nicht genügend Futter haben, weil sie in ihrer Not sogar Plastik fressen.» Von den hindunationalistischen Gruppen komme keinerlei Unterstützung, klagt er, im Gegenteil: Erst kürzlich hätten BJP-Aktivisten dreissig Viehtransporter gekapert und deren Fracht beim Zentrum abgeladen. «Hingonia ist für aufgegebene Tiere zuständig», sagt Shankar, «und nicht für Vieh, das den rechtmässigen Eigentümern gestohlen wurde.»

Kampf gegen «antinationale Kräfte»

Es gab auch früher Lynchmorde wie jenen, der an Pehlu Khan verübt wurde. Seit dem Amtsantritt von BJP-Ministerpräsident Narendra Modi 2014 haben gewaltsame Attacken aber deutlich zugenommen. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres lag die offizielle Zahl bei 44 Fällen, möglicherweise waren es aber mehr; in den Jahren 2012 und 2013 kam es hingegen jeweils nur zu einem vergleichbaren Angriff.

Das Muster ist stets dasselbe: Zuerst kursiert ein Gerücht, dass irgendwer Rinder transportiert oder schlachtet, dann greifen die Gau Rakshaks an, die angeblichen Kuhschützer, die oft entlang der Hauptstrassen patrouillieren. Sie schlagen Händler, Lastwagenfahrer oder Bauern halb oder ganz tot, die Polizei schaut weg oder verhaftet die Opfer, regionale BJP-PolitikerInnen verurteilen die Angegriffenen, die Geschichte geistert ein paar Tage durch die Medien, dann verschwindet sie aus den Schlagzeilen. Zurück bleiben die Angehörigen, die von der Polizei drangsaliert werden, von einem Amt zur nächsten Behörde rennen und verzweifelt Aufklärung verlangen.

Das Ganze hat System: Modis BJP ist ideologisch eng mit der 1925 gegründeten paramilitärischen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) verbunden, einer Freiwilligenarmee, die eine exklusive Hindunation erschaffen will. Die RSS florierte in ihrer Geschichte immer dann, wenn sie es schaffte, die indische Gesellschaft in «wir» und «die anderen» zu spalten. «Wir», das sind die Hindus; «die anderen» sind die muslimischen und christlichen InderInnen, die 16,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Der RSS-Chef Rajendra Singh sagte 1998 etwa: «Die Christen und die Muslime müssen die Hindukultur anerkennen, wenn sie wollen, dass wir Hindus sie als Inder betrachten.» Die Methoden, die sie anwenden, sind in einer Broschüre aus demselben Jahr beschrieben: «Besetzung von Gebetsstätten und Schulen der anderen Religionen, körperliche Angriffe auf die Andersgläubigen, Einsatz demoralisierender Methoden.»

Gewalt sei «die einzige Sprache, die diese spalterischen, antinationalen Kräfte verstehen», sagte der führende BJP-Politiker Vinay Katiyar vor Jahren einmal. 2014 gab ein anderer prominenter Hindufundamentalist sogar ein konkretes Ziel vor: «Wir werden bis Ende 2021 Indien christen- und muslimfrei machen», versprach er. Kurz danach, 2016, kam es offiziellen Angaben zufolge zu 441 Attacken auf christliche Einrichtungen und Priester; von Januar bis September 2017 waren es bereits 365, Tendenz steigend. Andere trifft es ungleich härter: 87 Prozent der von «Kuhschützern» Getöteten, so die Tageszeitung «Hindustan Times», waren Muslime.

Ein Ablenkungsmanöver?

Es geht um weitaus mehr als die verehrte Kuh. Es geht um eine Neudefinition der immer noch säkularen indischen Gesellschaft – die Geschichte soll umgeschrieben, dem Staat soll eine hinduistische Verfassung verpasst, die Moscheen und Kirchen sollen in Tempel verwandelt werden. Der «Feind», fordern BJP-Nationalisten und ihre RSS-Truppen, müsse endlich für alle Vergehen zur Rechenschaft gezogen werden: für die Invasion der Moguln im 16. Jahrhundert, für den Bau des muslimischen «Schandmals» Taj Mahal, für die Herrschaft der holländischen, portugiesischen und britischen Kolonialmächte, für die Abspaltung Pakistans, für die lange Regierungszeit der Nehru-Gandhi-Dynastie, für die Terroranschläge propakistanischer Gruppen, für den Kaschmirkonflikt … Die Liste wächst mit jedem Tag.

Die Regierung lässt die Fusstruppen dieses Umbaus gewähren. Ihr kommen die Aktionen der Kuhschützer zupass – die nach dem Mord an Junaid Khan eine breite, wenn auch kurzlebige Protestbewegung entfacht haben. Denn Modi kann nicht liefern, was er versprochen hat – mehr Wirtschaftswachstum, mehr Investitionen, mehr Wohlstand auch für die Armen. Der wirtschaftliche Zuwachs liegt unter dem der vorigen Regierung unter der Kongresspartei (2009–2014), Arbeitsplätze entstehen – wenn überhaupt – nur im informellen Sektor, ausländische Direktinvestitionen beschränken sich auf die Übernahme lukrativer indischer Unternehmen, die Landwirtschaft steckt in der Krise. Die Aktionen jener, die den hindunationalistischen Durchmarsch herbeiprügeln wollen, lenken von all dem ab.

Die Angehörigen von Pehlu Khan haben sich auf den beschwerlichen Weg zum Obersten Gerichtshof begeben, von dem sie sich Gerechtigkeit versprechen. Die höchste juristische Instanz des Landes hat sich bisher dem Druck der Regierung widersetzt und ihre Unabhängigkeit und Integrität bewahrt. Für die Khans gibt es noch Hoffnung.

Aus dem Englischen von Pit Wuhrer.

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