Die Niederlagen der SVP: «Auf soziale Fragen hat die SVP keine Antwort»

Nr. 16 –

Die SVP verliert in Kantonen, Städten und Gemeinden eine Wahl nach der anderen. Die Politologin Line Rennwald sagt, ein negativer Trend sei erkennbar, warnt aber vor übereilten Schlüssen.

In Europa feiern populistische, rechte und rechtsextreme Parteien und Bewegungen Wahlsiege. In den USA regiert Donald Trump. Die Schweiz hat diese Entwicklung mit der SVP vorweggenommen, die alles rechts von ihr aufsog. Vor zehn Jahren erreichte sie, was vorher keiner Partei gelungen war, sie holte bei den nationalen Wahlen einen WählerInnenanteil von nahezu dreissig Prozent, und diesen Erfolg konnte sie bei den letzten Wahlen sogar übertreffen. Seither verliert sie nicht nur Abstimmungen, in den bisherigen Wahlen in den meisten Kantonen – Ausnahmen sind St. Gallen, Thurgau und Schaffhausen – und nun auch in Gemeinden ist sie auf der Verliererstrasse. Die schwersten Verluste fuhr sie im vergangenen Jahr in Neuenburg ein. Dort musste sie fast die Hälfte ihrer Sitze im Kantonsparlament hergeben. Bei den jüngsten Wahlen hat dieser Trend angehalten. In der Stadt Zürich und in Winterthur setzte es eine heftige Niederlage ab. Bei den Zürcher Gemeindewahlen musste sie selbst in Agglo- und Landgemeinden Verluste hinnehmen. In Genf ist sie mit einem Verlust von drei Prozent WählerInnenanteil ebenfalls stark in die Defensive geraten. Nun werden in der Partei Stimmen nach einer Kurskorrektur laut. Derweil gewinnt das linke Lager erstmals seit fünfzehn Jahren leicht dazu.

WOZ: Frau Rennwald, hat die SVP ihren Zenit überschritten?
Line Rennwald: Ich rate zur Vorsicht und warne vor voreiligen Schlüssen. Die zum Teil schweren Wahlniederlagen der SVP, etwa im Kanton Neuenburg, sind dennoch signifikant. Ein Trend ist erkennbar. Eine haltbare Analyse ist im Augenblick aber sehr schwierig. Und es geht leicht vergessen, dass die Partei auf einem hohen Niveau verliert. Selbst wenn sie bei den Bundeswahlen im nächsten Jahr zwei oder drei Prozent Wähleranteil verlieren sollte, wird sie immer noch weit vor allen anderen liegen. Der Partei steht viel Geld zur Verfügung – und dass sie sehr erfolgreich Kampagnen führen kann, ist bekannt.

Was sind mögliche Ursachen für den Negativtrend?
Die Partei forderte eine buchstabengetreue Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative». Das Parlament hat sich diesen radikalen Forderungen widersetzt. Und die SVP hat es bei allem Wortgetöse letztlich hingenommen und das Referendum nicht ergriffen. Ich kann mir vorstellen, dass ihre Anhänger aus Enttäuschung darüber nicht zur Wahl gegangen und zu Hause geblieben sind. Die Partei hatte ein Mobilisierungsproblem, das ist offensichtlich. Die radikale Haltung der Parteiführung gegenüber der Personenfreizügigkeit spaltet zudem die Partei, da prallen gegensätzliche wirtschaftliche Interessen aufeinander. Die pragmatische FDP kann wirtschaftsfreundliche Wähler besser mobilisieren. Auf soziale Fragen hat die SVP keine Antwort. Steigende Krankenkassenprämien etwa belasten einen grossen Teil ihres Elektorats. Der Spagat zwischen den Interessen der Grossverdiener und jenen der Durchschnittsverdiener ist schwierig.

Die SVP ist stark in der Themenbewirtschaftung, aber sackschwach in der Problemlösung.
Tatsächlich erkennt sie Stimmungen, nimmt sie auf – Stimmungsmache ist ihre grösste Stärke, das kennen wir. Bei der praktischen Lösung von Problemen erkennt man allerdings rasch ihre Grenzen.

Die stärkste Partei schwächelt. Die SP legt wieder zu. Weshalb?
Das ist eine interessante Frage. Erstmals seit den frühen nuller Jahren wachsen die Wähleranteile von SP und Grünen. Vorher legten entweder die Grünen etwas zu, und die SP verlor – oder umgekehrt. Jedenfalls blieb es für Links-Grün in der Regel bei einem Nullsummenspiel. Jetzt können Grüne und SP zulegen.

Was macht die SP gegenwärtig besser als die SVP?
Sie kombiniert moderne und althergebrachte Mobilisierungsmethoden – sie spricht die Menschen gezielt und direkt an, arbeitet aber auch mit Datenbanken. Interessanterweise hat die SP gute Ergebnisse in Arbeiterquartieren erzielt. In Schwamendingen beispielsweise mobilisierte sie im Arbeiter- und Angestelltenmilieu. Jene Arbeiter und Angestellten, die gewöhnlich der SVP ihre Stimme geben, blieben zu Hause. Nicht ausser Acht lassen darf man, dass sich die Zivilgesellschaft zurückmeldet und nicht mehr alles den politischen Parteien überlässt. Ein Beispiel dafür ist die Mobilisierung gegen die «Durchsetzungsinitiative», ein anderes die aktuell entstehende Bewegung um das Referendum gegen die Überwachung von Sozialversicherungsbezügern.

In der Schweiz begann der Aufstieg der populistischen Partei zur dominanten Kraft vor dreissig Jahren. Könnte es sein, dass die Schweizerinnen und Schweizer bis hinein ins SVP-Elektorat angesichts der Folgen populistischer Politik in den europäischen Ländern die SVP zurückbinden möchten?
Das ist mir zu spekulativ. Man muss die Wahlen im Herbst 2019 abwarten. Sicher ist derzeit nur: Es gibt sehr viele offene und interessante Fragen.