Durch den Monat mit Silva Semadeni (Teil 4): Warum kehren so viele Junge den Berggebieten den Rücken?

Nr. 17 –

Die Bündner Nationalrätin Silva Semadeni glaubt, dass auch in Bergregionen ein freiheitliches Leben möglich ist.

Silva Semadeni: «Leider versteuern die Energiekonzerne ihre Gewinne dort, wo sie zu Hause sind, statt dort, wo sie den Strom effektiv produzieren.»

WOZ: Silva Semadeni, nach Ihrem Studium in Zürich, Florenz und Berlin sind Sie nach Graubünden zurückgekehrt. Warum eigentlich?
Silva Semadeni: Das war die Sehnsucht nach den Bergen und der Natur und meiner italienisch-bündnerischen Identität. Ich habe immer versucht, die neuen Erkenntnisse aus dem Studium mit meiner Herkunft in Einklang zu bringen. Und es war klar für mich: Ich kann nicht an einem Ort leben, wo es keine Kühe gibt.

Damit sind Sie fast eine Ausnahme. Viele junge Menschen kehren den Randregionen nach dem Studium den Rücken. Was läuft falsch?
Ein Grund sind die wenigen qualifizierten Arbeitsplätze. Gleichzeitig muss man auch sehen, dass die Städte gerade für Junge mehr Freiheit und Anonymität bieten. Dennoch frage ich mich häufig, warum die Jungen nicht mehr zurückkommen. Es gibt heute auch in den Berggebieten interessante Arbeitsplätze. Und innovative Geister braucht es auch bei uns!

Liegt es auch an der konservativen Gesellschaft, die von der Rückkehr abschreckt?
Mag sein. Aber auch in Berggebieten ist ein freiheitliches Leben möglich, es erfordert vielleicht mehr Rückgrat. Es lohnt sich immer, auch im Berggebiet, wenn man den Mut hat, sich selber zu sein.

Was könnte junge Menschen konkret von der Abwanderung abhalten?
Bildung spielt eine Schlüsselrolle. In Chur gibt es mittlerweile eine innovative Hochschule für Technik und Wirtschaft, eine Hochschule für Tourismus. Diese zieht selbst Studierende aus anderen Kantonen an. In die Bildung zu investieren, lohnt sich. Wenn junge Studierende als Zwanzigjährige in die Grossstadt abwandern und sich dort ihr eigenes Milieu schaffen, ist der Schritt zurück gross. Dies, obwohl die Lebensqualität im Berggebiet heute ebenso hoch ist wie in den Städten und sich das Kulturangebot sehen lassen kann.

Die Kantonalparteien der SP in den Bergregionen bündeln derzeit ihre Kräfte, um gemeinsam auf anstehende Probleme zu reagieren.
Das ist ein wichtiger Schritt. Es gab bereits früher eine Berggebietskommission in der SP Schweiz, die ist aber eingeschlafen. Jetzt kommt wieder Bewegung in die Sache. Wir wollen das Interesse und das Verständnis für unsere Anliegen fördern. Mittlerweile haben wir unsere Hauptthemen definiert.

Geht es auch um die Wasserzinsen?
Sicher! Der Wasserzins steht heute unter Druck, und viele wissen nicht recht, welche Bedeutung er hat. Der Wasserzins ist keine Steuer, keine Abgabe und auch keine Subvention. Der Wasserzins ist nichts anderes als die Entschädigung für die Nutzung der Ressource Wasser. Er wurde vor hundert Jahren auf Bundesebene gesetzlich geregelt und – im Interesse der Städte und der Wasserkraftgesellschaften mit Sitz im Unterland – nach oben gedeckelt. Das Wasserzinsmaximum wurde damals erfunden, damit die Berggebiete nicht zu hohe Forderungen stellen können. So war die Wasserkraft für die Energiekonzerne lange ein Milliardengeschäft. Mittlerweile sind die Strompreise gesunken und die Gewinne zurückgegangen. Und nun steht ausgerechnet der Wasserzins unter Druck!

Die Stromkonzerne behaupten, die Wasserkraft sei unrentabel geworden. Trifft das zu?
Nein, eine Studie der Elektrizitätskommission (Elcom) vom Juni 2017 hat gezeigt, dass mit der flexibel produzierenden Wasserkraft immer noch genug Geld verdient wird. Der Gewinn ist aber ungleich verteilt. Unternehmen, die den Strom in die Grundversorgung liefern, an die Privathaushalte, machen weiterhin rentable Geschäfte. Durch die Teilliberalisierung des Strommarkts müssen aber einige Unternehmen im Wettbewerb bestehen. Dort können die Preise tiefer sein als die Gestehungskosten. Volle Transparenz gibt es aber nicht. Der teurere Atomstrom ist für die Energiekonzerne sicherlich eine grössere Belastung!

Ein Grossteil der Energiewirtschaft befindet sich in der Hand von Kantonen und Städten aus dem Flachland. Weshalb eigentlich?
Den Bergkantonen fehlte das Geld, um Staudämme und Wasserkraftwerke zu bauen. Also haben die an kostengünstigem Strom interessierten Kantone und Gesellschaften aus dem Unterland investiert. Entsprechend sind die Beteiligungen der Bergkantone klein. Leider führt das dazu, dass die Energiekonzerne ihre Gewinne dort versteuern, wo sie zu Hause sind, statt dort, wo sie den Strom effektiv produzieren. Die Berggebiete bezahlen einen hohen Preis für die Nutzung der Wasserkraft. Bergtäler und manchmal auch Dörfer und Weiler wurden geflutet, Gewässer sind beeinträchtigt. Umso wichtiger ist es, dass der Wasserzins beibehalten wird als Entschädigung für die Nutzung einer der wenigen Ressourcen des Berggebiets.

Was würde die geplante Senkung der Wasserzinsen für die Bergregionen bedeuten?
Den Bergkantonen und -gemeinden würden rund 150 Millionen Franken pro Jahr fehlen. Für viele Berggemeinden wäre das ein radikaler Einschnitt, sie könnten ihre Aufgaben teilweise nicht mehr wahrnehmen. Alleine im Unterengadin stünden jährlich um die drei Millionen Franken weniger zur Verfügung. Für das Berggebiet sind das hohe und unersetzliche Beträge, die ihm zustehen.

Silva Semadeni (66) geht die Arbeit nicht aus, der Kampf um die Wasserzinsen für die Bergregionen ist wichtig. Geht er verloren, ist das Überleben vieler Berggemeinden infrage gestellt.