Postkoloniale Forschung: Die Schweiz entstand auf Haiti

Nr. 19 –

Eine Tagung in Bern zeigte, wie die Geschichte der Schweiz gerade neu geschrieben wird: Eine junge Generation von ForscherInnen fragt nach der globalen Verflechtung des Landes.

Ganz zum Schluss brachte es Cédric Wermuth auf den Punkt. Auf die Frage des Moderators, wie er die Schweizer Geschichte hacken, also in einer Diskussion für produktive Unruhe sorgen würde, meinte der SP-Nationalrat: «Ich würde feststellen, dass die Schweizer Geschichte 1791 auf Haiti begonnen hat.» Damit ging in Bern die historische Tagung «Von der Kolonisierung zur Globalisierung» zu Ende, die den Anspruch erhoben hatte, die Schweizer Geschichte neu zu denken, dies fern der bekannten Erinnerungsdaten, die in diesem Jahr alle auf der Zahl acht enden: von der Bundesstaatsgründung 1848 über den Landesstreik 1918 bis zum gesellschaftlichen Umbruch von 1968.

Die Forderung nach dem Neuen wirkte anziehend. Von der jungen Studentin bis zum emeritierten Professor: Der Vorlesungssaal war an diesem Frühlingstag Ende April gut besucht, mit Gästen aus NGOs und Parteien wurde zudem die Debatte über die Wissenschaft hinaus gesucht. Vor allem aber sprachen einige junge ForscherInnen, die eine migrantische Biografie aufweisen. Ihre eigene familiäre Geschichte spielt sowohl hier wie anderswo, in jenem globalen Zusammenhang also, den die Tagung für die allgemeine, grosse Geschichte als Grundannahme fordert: eine postkoloniale Geschichte, die die Schweiz nicht als abgeschlossene Einheit betrachtet, sondern die nach ihrer Verflechtung mit der Welt fragt.

Hier und anderswo: Das konnte in den Vorträgen ein Schützenverein in der Handelsmetropole Singapur sein, wobei nur die Schweizer Geschäftsleute, nicht aber die sogenannten Hausangestellten auf dem Erinnerungsfoto des «Swiss Rifle Shooting Club» Gewehre tragen. Es konnte ein Hilfsprojekt in Ruanda sein (bei der Entwicklungszusammenarbeit bevorzugte die Schweizer Politik stets Länder mit hohen Bergen). Hier und anderswo, das war schliesslich immer wieder Haiti.

Die koloniale Amnesie

Für die Genfer Politologin Noémi Michel war der Inselstaat in der Karibik in den Erzählungen ihres Vaters stets präsent. Er stammt aus Haiti und erzählte ihr vom Aufstand der SklavInnen von 1791 gegen die französischen Kolonialherren, der wenige Jahre später zur Unabhängigkeit des Landes führte. In der hiesigen Geschichtsschreibung ist diese Revolution im Gegensatz zur Französischen einer kolonialen Amnesie anheimgefallen, wie Michel mit Einträgen des «Historischen Lexikons der Schweiz» belegte: Weder kommt sie im Eintrag über «Haiti» noch in jenem über die «Gleichheit» vor. Die Politik des Verschweigens trage bis heute zum Ausschluss der Nachkommen aus der Gesellschaft bei.

Wie die Schweiz als Handelsmacht ohne Kolonien tief in die Sklaverei verstrickt war, erläuterte darauf Historikerin Jovita dos Santos Pinto anhand der Lebensgeschichte von Pauline Hippolyte Buisson. Als Kind einer Sklavin und eines Sklaven wurde sie 1776 von einem Schweizer Offizier, der an der Niederschlagung von Aufständen in Haiti beteiligt war, nach Yverdon mitgenommen. Hier wurde sie weiterhin wie ein Eigentum der Familie behandelt. Als Buisson einen Sohn gebar, entluden sich an ihr rassistische, sexualisierte Stereotype. In Gerichtsakten war von einer «leicht entflammbaren Materie» die Rede. Bis zu ihrem Lebensende blieb Pauline Buisson staatenlos.

Auf den Vortrag folgte eine rege Diskussion über das Bürgerrecht. Halua Pinto de Magalhães vom Institut Neue Schweiz hielt fest, dass vordemokratische Strukturen wie das Abstammungsprinzip weiterhin die Bürgerrechte prägten, Stefan Egli vom Thinktank Foraus fragte sich, wie ein neues Bürgerrecht aussehen könnte, das nicht länger von der weissen, männlichen Norm ausgehe. KritikerInnen werfen der postkolonialen Forschung gerne vor, sie gefalle sich aus der Position der Nachgeborenen heraus in moralischer Überlegenheit. Die Diskussion zeigte im Gegenteil, dass sie die bis heute in der Politik wirksamen rassistischen Spurenelemente sichtbar macht. Oder lesen sich heutige Einbürgerungsentscheide bisweilen so anders als die Gerichtsprotokolle über Pauline Hippolyte Buisson?

Das Tabu der Menschenrechte

Dass eine Geschichte, die nach der Verflechtung mit der Welt fragt, gänzlich neu sei, war selbstverständlich eine geschickte Behauptung der OrganisatorInnen, um Aufmerksamkeit für ihre Tagung zu gewinnen. Schliesslich schärft die postkoloniale Forschung schon seit rund zehn Jahren ihr Profil: angefangen bei Pionierwerken zum Sklavenhandel wie «Reise in Schwarz-Weiss» von Hans Fässler (2005) bis zu Sammelbänden wie «Colonial Switzerland» von Patricia Purtschert und Harald Fischer-Tiné (2015). Die Konferenz zeigte vielmehr, wie weit das Neue bereits ist: Die ForscherInnen sind gut vernetzt, kulturwissenschaftliche und wirtschaftshistorische Ansätze, die früher konträr zueinanderstanden, greifen heute ineinander.

Zwei Herausforderungen bleiben dennoch bestehen. Zum einen reproduziert die Frage nach der Schweiz in der Welt am Ende doch häufig wieder die Schweiz als Einheit. Zum anderen verliert eine Geschichtsschreibung, die nach globalen Herrschaftsmechanismen fragt, bisweilen den universellen Charakter von Emanzipationsbestrebungen aus dem Blick. So fiel an der Tagung kaum je der Begriff der Menschenrechte. Man mag sie kulturrelativistisch als Konzept der westlichen Moderne abtun. Doch schliesslich fühlten sich die «schwarzen Jakobiner» auf Haiti gerade von der französischen Erklärung der Menschenrechte mitgemeint und reklamierten dadurch erst deren Unteilbarkeit.