WM-Mania: Putins Spiele: Autoritarismus im Trikot

Nr. 24 –

Während in den Stadien der Ball rollt, liegt der inhaftierte ukrainische Regisseur Oleh Senzow im Sterben. Auch sonst ist die Liste der Menschenrechtsverletzungen lang.

Wenn am Erscheinungstag dieser WOZ im Moskauer Luschniki-Stadion die Fussball-WM beginnt, befindet sich der ukrainische Regisseur Oleh Senzow seit einem Monat im Hungerstreik. Er will so lange hungern, bis alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland frei sind – und ist bereit, dafür bis zum Äussersten zu gehen. Senzow, der von der annektierten Krim-Halbinsel stammt und den ein russisches Gericht 2015 in einem abstrusen Schauprozess wegen «Terrorismus» verurteilte, verbüsst im sibirischen Straflager IK-8 am nördlichen Polarkreis eine zwanzigjährige Haftstrafe. Zu verlieren hat er nichts. Während das WM-Publikum in den Stadien und vor den Bildschirmen gebannt auf den Ball starrt, liegt Tausende Kilometer entfernt ein Mensch im Sterben. Senzows bitteres Kalkül: Beim Sterben soll ihm wenigstens die ganze Welt zusehen.

Inzwischen haben sich Schriftstellerinnen und Künstler, Filmemacher und Politikerinnen mit Senzow solidarisiert. Von Genf bis Warschau gehen sie auf die Strasse, rufen die russische Führung dazu auf, Gnade walten zu lassen. Doch in Russlands Gefängnissen sitzen weit über hundert weitere politische Gefangene.

Was bringt ein Boykott?

Seit die Fussball-WM 1978 in Argentinien unter der Militärdiktatur stattfand, war kein Austragungsort mehr so umstritten. «Die Weltmeisterschaft findet während der schlimmsten Menschenrechtskrise in Russland seit der Sowjetzeit statt», schreibt Human Rights Watch. An dieser Krise werden die Spiele kaum etwas ändern – im Gegenteil: Für die Zeit der WM hat die Regierung die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt. Jeder Protest wird im Keim erstickt, während die Behörden unliebsame KritikerInnen als «Gefährder» verhaften können. In Tschetschenien, wo die ägyptische Mannschaft ihr Lager hat, werden laut Berichten von NGOs Homosexuelle gejagt, inhaftiert und gefoltert. Auch im Rest des Landes schürt das Gesetz gegen «homosexuelle Propaganda» Hass. Ob prekäre Bedingungen beim Stadionbau oder die Pressefreiheit: Die Liste der Repressionen ist lang.

Vielerorts wird nun zum Boykott der WM aufgerufen, weil die glitzernde Show am Ende nur dem Regime nütze. Neben Ländern wie Britannien und Australien erwägen auch EU-ParlamentarierInnen, dem Grossanlass fernzubleiben. In der Schweiz fordert beispielsweise Grünen-Chefin Regula Rytz Bundespräsident Alain Berset dazu auf, nicht nach Russland zu reisen.

In der Vergangenheit haben Boykotte grosser Sportanlässe selten etwas bewirkt. Und sie sind immer die billigste Lösung: weil sie die BoykottiererInnen nichts kosten und weiter gehende Wirtschaftsinteressen nicht gefährden. Wie wäre es stattdessen, wenn sich einer der Spieler mit Kreml-KritikerInnen ablichten liesse? Oder sich eine Politikerin vor laufenden TV-Kameras mit politischen Gefangenen solidarisierte? Nach Russland zu reisen, könnte schliesslich auch heissen, sich an die Seite Andersdenkender zu stellen.

In der Kritik steht vor dem Anpfiff auch die Fifa: weil der Verband die WM überhaupt erst an Länder wie Russland vergibt. In ihren Statuten bekennt sie sich zum Schutz der Menschenrechte – und schliesst vor deren Verletzung doch regelmässig die Augen. Umso scheinheiliger die Kritik: Denn was könnte besser zueinander passen als eine Organisation, die die kapitalistische Verwertungslogik bestens verinnerlicht hat, und ein autoritäres Regime? Zusammen haben sie eine Meisterschaft auf die Beine gestellt, die als die teuerste in der Geschichte des Weltfussballs gilt.

«Was für Sport?»

Während in den zwölf Austragungsorten der WM der Ball rollt, will die WOZ auch einen Blick auf die Ereignisse abseits des Spielfelds werfen. In dieser Ausgabe porträtieren wir einen Moskauer Antifaschisten, der eine Initiative gegen Rassismus im Fussball lanciert hat, und widmen uns den legendären sowjetischen Fussballklubs. In den nächsten Wochen wollen wir folgenden Fragen nachgehen: Wer engagiert sich gegen die Repression? Wer sonnt sich im Glanz der Spiele? Und wie steht es um die Rechte von LGBT-Menschen und die Sicherheit von MigrantInnen?

Der ostukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan fasste seine Haltung zur WM in der FAZ so zusammen: «Man kann nicht so tun, als gebe es keinen Krieg, wenn es ihn gibt. Man kann nicht so tun, als ginge es um Sport, wenn es um das Böse geht. Was für Sport? Was für Übertragungen, was für eine Weltmeisterschaft? Es gibt Krieg, es gibt Okkupation, es gibt Gefangene.» Am 13. Juli – zwei Tage vor dem WM-Final – feiert Oleh Senzow seinen 42. Geburtstag. Hoffentlich in Freiheit.