Kunstbiennale: Freie Ernte für alle

Nr. 25 –

Die 12. Manifesta in Palermo begeistert in ihrer extremen Bodenhaftung. Und setzt selbst dort ungeheures kulturelles Potenzial frei, wo sie die Kunst an den Rand der Sozialarbeit führt.

Zeigt uns die Kunst den Weg in den Garten der Glückseligen? Tapete der Initiative Fallen Fruit im Palazzo Butera in Palermo.

Meterhoher Bambus aus Burma, dunkelrote Malven aus Äthiopien, grossblättrige Feigenbäume aus Australien. Wer durch Palermos Botanischen Garten schlendert, dem drängt sich das Bild unwillkürlich auf. Was ist der 1789 eröffnete Orto Botanico, einer der schönsten und ältesten in Europa, anderes als eine Metapher für eine friedliche Koexistenz der Arten? Wenn alle so einträchtig nebeneinander gediehen wie die Pflanzen hier, könnte die Welt dann nicht wieder zu dem Paradies werden, das sie womöglich wirklich einst war?

«The Planetary Garden. Cultivating Coexistence»: Die biophile Metapher, zu der sich die Manifesta vor zwei Jahren als Motto ihrer zwölften Ausgabe von Palermos grünem Juwel und dem gleichnamigen Buch des französischen Philosophen Gilles Clément inspirieren liess, führt natürlich etwas in die Irre. Pflanzen gehen nicht bewusst ins Exil. Und friedliche Nachbarschaft wächst nicht auf Mistbeeten. Aber wenige Tage nachdem die neue italienische Rechtsregierung zwei Rettungsschiffen mit über 600 Flüchtlingen die Einfahrt in Italien verweigert hatte und sich überall in Europa die Nationen wieder einmauern, erwies sich das Thema der europäischen Wanderbiennale plötzlich als das Signal der Stunde.

Kaum ein anderer Ort in Europa eignet sich mehr dafür. Die von Phöniziern gegründete, später von Griechen, Arabern und Normannen beherrschte Metropole Siziliens ist von jeher eine Kreuzung der Kulturen. «In Palermo gibt es keine Flüchtlinge. Jeder, der hierherkommt, ist ein Bürger der Stadt», wiederholte Palermos charismatischer Antimafia-Bürgermeister Leoluca Orlando zur Manifesta-Eröffnung emphatisch das Bekenntnis zu «Mobilität als Menschenrecht», das die 2015 von ihm initiierte «Charta von Palermo» propagiert.

Das Salz dieser Erde

Trotzdem ist die Manifesta kein vordergründiges Politspektakel geworden, in dem einmal mehr die sattsam bekannten Bekenntnisse gegen das Elend der Migration und den Kontrollstaat abgespult werden. Es geht auch betörend sinnlich: Patricia Kaersenhouts riesiger Salzberg, den sie in einer der verrotteten Fluchten des Palazzo Forcella de Seta am Hafen gehäuft hat, ruft die karibische Sklavenlegende des «Fliegenden Afrikaners» auf, der nach dem Genuss von Salz zurück in die Heimat fliegen kann.

So zeitkritisch der Ansatz, so sehr suchten die MacherInnen ihre Manifesta tief in der Stadt zu verwurzeln. Wie der Teufel das Weihwasser scheuten sie den Morbus biennalis, wie er vor zwei Jahren bei der Manifesta in Zürich zu besichtigen war: Ein paar überspannte KuratorInnen fliegen in eine Stadt ein, stellen dort ein metaphorisch überhöhtes Kunstpaket ab und verschwinden nach zwei Monaten wieder. In Palermo dagegen stuften sich die niederländische Filmemacherin Bregtje van der Haak, der spanische Architekt Andrés Jaque, Ippolito Laparelli aus Italien und Mirjam Varadinis vom Kunsthaus Zürich bescheiden zu «kreativen MediatorInnen» herunter. Zusammen mit den KünstlerInnen näherten sie sich in einer Art Mimikry der Stadt und ihren BewohnerInnen, ihren Traumata und Initiativen an. «Das Projekt ist die Stadt», stellt Laparelli unmissverständlich klar.

Die Drohne im Eichenwald

So lassen dann Nicolò Massazza und Iacopo Bedogni, besser bekannt als Künstlerduo Masbedo, die BewohnerInnen der Stadt ihre eigenen Geschichten erzählen. Ein zum «Videomobile» umgerüsteter Leiterwagen im Innenhof des maroden alten Palazzo Costantino dient als Freiluftkino. Die Initiative Fallen Fruit kartiert mit ihrer «Public Fruit Map» Hunderte Obstbäume in der Stadt zur freien Ernte für alle. Dass das sozial Nützliche dabei auch schön sein kann, beweist das britische Kollektiv Cooking Section. Daniel Fernández Pascual und Alon Schwabe beschäftigen sich mit dem Essen in Zeiten des Klimawandels. Das neongrüne Netz, das sie über zwei grosse Zitronenbäume im Giardino dei Giusti spannten, speichert eigentlich Wasser für die öffentliche Kochstation darunter. Eine Website meldet, welche Restaurants der Stadt während der Manifesta an dem Projekt partizipieren. Zugleich entfaltet die gleichsam schwebende Installation denselben Zauber wie Christos Verhüllungen.

Zu den besten Arbeiten der Schau zählt das Videoprojekt «Signal Flow», das die US-Regisseurin Laura Poitras («Citizenfour») mit sizilianischen KollegInnen realisierte. Lautlos, ohne jeden Kommentar, wie in einem Horrorfilm, sieht man eine Drohne scheinbar ziellos in Slowmotion durch einen Wald von Korkeichen fliegen. Bis am Ende auf einem Plateau drei riesige Satellitenschüsseln und 42 Antennen auftauchen. Poitras hatte sich auf den Weg in die Kleinstadt Niscemi, knapp 200 Kilometer südöstlich von Palermo, gemacht. Dort steht einer von weltweit vier Hightechstützpunkten, über die die US-Armee die globale Telefonkommunikation überwacht.

Und im Palazzo Ajutamicristo, einem weiteren der Paläste, deren morbide Ruinenästhetik der Biennale ihr hinreissendes Gepräge geben, hat die kubanische Kunstaktivistin Tania Bruguera Parolen, Wandbilder und Flugblätter der Initiativen zusammengetragen, die vor Ort gegen das Mobile User Objective System (MUOS) kämpfen. Wenn die Manifesta-MacherInnen abstrakt von Palermo als «Knotenpunkt geografischer Bewegungen» sprechen, wird in der Sektion mit Poitras und Bruguera beklemmend deutlich, wie das scheinbar weltfern Lokale und das vernetzt Globale heute in eins fallen.

Der extreme Fokus auf Stadt und Region führt die Kunst in dieser Schau hart an die Grenze zur verkappten Sozialarbeit. In Zen, der Trabantenstadt im Norden Palermos, hat die Manifesta zusammen mit dem Verein Laboratorio Zen Insieme zwischen zwei heruntergekommenen Sozialbauten aus den sechziger Jahren ein Urban-Gardening-Projekt aus dem Lehmboden gestampft. Die drei Obstbäume auf brauner Brache, ein paar Beete mit Gemüsepflanzen kommen eher dürftig daher. Ab und zu gibt es dort Filmabende.

Doch das kulturelle Potenzial, das der unansehnliche Space birgt, sollte man nicht unterschätzen: In der Peripherie ohne nennenswerte soziale Dienstleistungen wird ein öffentlicher Raum geöffnet. Und die BewohnerInnen des vermüllten Problemviertels lernen, dass sie ein Recht darauf haben und sich dafür nicht dankbar erweisen müssen, wie es ihnen die Mafia jahrzehntelang eingebläut hat – die Kunstbiennale als Katalysator eines Mentalitätswandels.

Auf Herz und Nieren

Gipfel dieser Methode, soziale Erneuerung ästhetisch zu implementieren, ist der «Palermo-Atlas», den die Manifesta durch das Büro des niederländischen Architekten Rem Koolhaas erstellen liess. Auf gut 400 Seiten hat dessen wissenschaftliches Team die Stadt auf Herz und Nieren vermessen: von der Tourismusgeschichte über die Migrationsbewegungen, vom Leben der verborgenen Religionsgemeinschaften in der Stadt bis zu den architektonischen Wunden, die die Mafia, die politische Korruption der Stadt und die verheerenden Erdbeben 1968 und 2002 geschlagen haben.

Mit dieser Mischung aus ästhetischer Anverwandlung und Stadtrecherche gelingt der Manifesta, was der Berliner Künstler Christian Jankowski unter dem Motto «What people do for money» vor zwei Jahren in Zürich mit faden Gags und Gigs verstolperte – der Bezug zu den Bedingungen vor Ort. Sie legt das Modell Biennale aber noch stärker auf die zwiespältige Rolle des Instruments zur urbanen Regeneration und Belebung der Zivilgesellschaft fest, in dem die Kunst gerade noch unterstützen darf.

Was für Palermo vielleicht gut ist. Zu einem Garten der Glückseligen wird Bürgermeister Orlando seine Stadt mit der Manifesta-Ausbeute über Nacht zwar nicht verwandeln können. Aber die geistigen Fundamente für den Neuanfang einer prekären Stadt sind gelegt. Das haben offenbar auch ein paar andere Urban Developers bemerkt. Auf Palermos Magistrale Via Vittorio Emanuele leuchtet noch nachts das edle Büro einer gefürchteten Berliner Agentur für Nobelimmobilien. Diese Erzengel der Verwertung haben bekanntlich noch jedes Paradies in die Hölle der Gentrifizierung verwandelt.

«The Planetary Garden. Cultivating Coexistence». Manifesta 12, Palermo. Bis 4. November 2018. Katalog 15 Euro. www.manifesta12.org