NSU-Urteil: Die dringlichsten Fragen bleiben offen

Nr. 28 –

Über fünf Jahre hat der NSU-Prozess gedauert. Fast 600 ZeugInnen und zahlreiche Sachverständige wurden gehört, 250 Beweisanträge gestellt, viele Tausend Seiten Akten studiert. Am Mittwoch fällte das Münchner Oberlandesgericht sein Urteil: Es verurteilte die Hauptangeklagte Beate Zschäpe als Mittäterin zu lebenslanger Haft. Ihre vier Mitangeklagten erhielten teilweise milde Haftstrafen zwischen zweieinhalb und zehn Jahren.

Jahrelang hatte der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) quer durch Deutschland gemordet. Neun Kleinunternehmer mussten sterben, weil sie türkischer, kurdischer oder griechischer Herkunft waren. Auch drei Bombenanschläge in Köln und Nürnberg, der Mord an einer Polizistin und fünfzehn Raubüberfälle gehen auf das Konto der Terrorgruppe. Ihre Taten waren ein Angriff auf die postmigrantische Gesellschaft des Landes, sie wurden fortgeschrieben von Behörden und Medien. Jahrelang fiel das rassistische Motiv der Morde ausser den Angehörigen der Opfer praktisch niemandem auf – im Gegenteil: Die ErmittlerInnen verdächtigten ausgerechnet das Umfeld der Ermordeten, diskriminierten und verhöhnten sie. Die Ermittlungen liefen derweil ins Leere. Erst mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt flog die Zelle auf.

Bei der offiziellen Trauerfeier für die Opfer versprach Angela Merkel «lückenlose Aufklärung». Nun sind die 438 Prozesstage vorbei – und viele Fragen bleiben unbeantwortet. Wie wurden die Opfer ausgesucht? Bestand der NSU aus dem «Kerntrio», wie die Bundesanwaltschaft behauptet, oder waren die drei nicht doch vielmehr Teil eines Netzwerks, das sie tatkräftig unterstützte? Welche Rolle spielte der Inlandsgeheimdienst, warum war einer seiner V-Leute zur Tatzeit am Tatort?

Seit 1990 sind in Deutschland fast 200 Personen von RechtsextremistInnen ermordet worden. Und die Angriffe auf Geflüchtete reissen nicht ab. Derweil heizen die AfD und ihre bürgerlichen HelferInnen ein Klima an, in dem aus Hass schnell Gewalt wird, aus Hetze fliegende Brandsätze. Deshalb ist die wohl dringlichste Frage: Wie hängen die zehn Morde des NSU mit dem Verhalten der Mehrheitsgesellschaft zusammen? Denn Terrorismus entsteht nicht im Vakuum. Und mit Empörung allein bekämpft man ihn nicht.

Die Reportage vom Tag der Urteilsverkündung folgt in der nächsten WOZ.