Streit ums Rahmenabkommen: Der Freisinn in der Abseitsfalle

Nr. 33 –

Eine ideologische Kehrtwende der freisinnigen Bundesräte führte zum vorläufigen Ende der Verhandlungen um ein Rahmenabkommen. Die Chronologie einer Eskalation.

Es war ein Abend fern der grossen Politagenda. Am 12. Juni lud Entwicklung Schweiz, der Branchenverband der Generalbauunternehmer, ins Hotel Bellevue in Bern. Ignazio Cassis sprach zum Stand der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU. Nur ein Bundeshauskorrespondent von Radio SRF leistete seinen Dienst. Er horchte auf, als der Aussenminister plötzlich von «kreativen Wegen» bei den flankierenden Massnahmen sprach. Die Voranmeldefrist von ausländischen Firmen könne beispielsweise verkürzt werden. Auf Nachfrage bestätigte Cassis die Aussagen auf Band. Der Radiobeitrag am nächsten Tag war gerade einmal drei Minuten kurz. Doch das Interview war das folgenreichste im laufenden Jahr.

Seither orakelt man in Bundesbern: War es Taktik oder ein Versehen? Sprach Cassis, oder sprach es mit ihm? Seine Stellungnahme bedeutete auf alle Fälle den Anfang vom Ende eines Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU.

Das Mandat

Um die Tragweite seiner Aussagen zu verstehen, muss man fast zwanzig Jahre zurückgehen: Im Jahr 2000 wurde im Abkommen über die Personenfreizügigkeit das Prinzip der Nichtdiskriminierung festgeschrieben. ArbeitnehmerInnen aus der Schweiz und der EU waren gleichberechtigt, das unwürdige Saisonnierstatut war gefallen. Um das Lohnniveau zu sichern, handelten Gewerkschaften und Wirtschaftsverbände die flankierenden Massnahmen aus, die als Bundesrecht festgeschrieben wurden. Mit jeder aussenpolitischen Öffnung wurde der Lohnschutz weiter verstärkt.

Das ging lange gut, bis am 9. Februar 2014 die «Masseneinwanderungsinitiative» der SVP knapp angenommen wurde. Die Gewerkschaften reagierten alarmiert: Sie erklärten das Resultat damit, dass der neue Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt im Vorfeld eine Ergänzung des Lohnschutzes verweigert hatte.

Der Bundesrat reagierte. Als er am 22. Mai 2014 die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU aufnahm, hielt er im Mandat unzweifelhaft fest: «Es wird sichergestellt, dass die Schweiz die flankierenden Massnahmen im Rahmen der Personenfreizügigkeit beibehalten kann.» Die Europäische Kommission kritisierte den Lohnschutz zwar in ihren jährlichen Berichten. Der Bundesrat bestätigte seine Position in den letzten vier Jahren aber mehrfach. Bis Cassis vor den Bauherren sprach.

Der Gesamtbundesrat pfiff den Aussenminister sofort zurück. Vor den Medien bestätigte Cassis am 4. Juli 2018 die flankierenden Massnahmen. Der zweite FDP-Bundesrat, Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, wollte nun aber in der Frage die Sozialpartner und die Kantone konsultieren. Federführend bei der Einladung war Stefan Brupbacher. Der Generalsekretär des Volkswirtschaftsdepartements gilt als neoliberaler Hardliner. Am 2. August gab das Departement seine Absichten bekannt: Im Dokument sind sieben Sanktionsmittel zum Lohnschutz aufgelistet, die infrage gestellt werden. Zusätzlich heisst es, die flankierenden Massnahmen müssten künftig auch dem Europäischen Gerichtshof standhalten.

Die Wende

Am 8. August trat der Gewerkschaftsbund vor die Medien und beendete die Sommerpause mit einem Knall. Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner sprach angesichts der Einladung von einem «nie da gewesenen Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen». Wenn der Lohnschutz die Akzeptanz der EU finden müsse, bedeute das eine Preisgabe der flankierenden Massnahmen.

Folgt man der Chronologie, dann haben sich nicht die Gewerkschaften stur dem Gespräch verweigert. Vielmehr haben die FDP-Bundesräte und ihre Entourage ideologisch motiviert den Kurs gewechselt, und zwar entgegen der Mehrheit im Bundesrat. Oder um einen Fussballvergleich zu ziehen: Cassis und Schneider-Ammann wirken wie zwei Stürmer, die während des Spiels plötzlich die Mannschaft wechseln und aufs eigene Goal zielen. Wen wunderts, stellten die Gewerkschaften die Abseitsfalle.

Der Wahlkampf

Dass das Rahmenabkommen mit der EU fürs Erste in weite Ferne gerückt ist, stört wenige. In der EU kann die Auseinandersetzung jenen Stimmen Auftrieb verleihen, die einen stärkeren Lohnschutz fordern (vgl. Seite 3). In der Schweiz freuen sich die Parteien, dass im Wahljahr statt des Europathemas die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit im Vordergrund steht. Die SVP ist vorerst abgemeldet.

Und was macht eigentlich Ignazio Cassis? Er weilte bis Sonntag auf Staatsbesuch in Indien und gab von dort weiter Interviews. Im Westschweizer Fernsehen äusserte er sich optimistisch: Die Verhandlungen seien keinesfalls blockiert. Er schliesse nicht aus, dass die Gewerkschaften an den Verhandlungstisch zurückkehrten. Verantwortlich für das wichtigste aussenpolitische Geschäft fühlt er sich offensichtlich nicht. Johann Schneider-Ammann sei alleine für die Sondierungen zuständig, meinte er lachend: «Ich habe ihm gesagt, dass er jederzeit kommen kann, wenn er mich braucht. Ansonsten bin ich in der Zwischenzeit in Indien oder mache etwas anderes.»