Gewalt gegen Frauen: Es gibt noch viele Lücken zu schliessen

Nr. 34 –

Im Mai unterzeichnete die Schweiz endlich die Istanbul-Konvention, das europaweite Übereinkommen zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen – trotz Widerstands der SVP. Nun stehen Bund und Kantone in der Pflicht.

Nach der Gewalttat in Genf ist die Debatte um das Thema «Gewalt gegen Frauen» endlich in der breiteren Öffentlichkeit angekommen. Doch sie geht in die komplett falsche Richtung. Stellvertretend dafür stehen Natalie Rickli und der «Blick». Die SVP-Nationalrätin, die im kommenden Frühjahr als Zürcher Regierungsrätin kandidieren will, darf sich im Boulevardblatt als vehemente Vorkämpferin gegen Gewalt an Frauen inszenieren. «Um die Opfer zu schützen und Täter hart zu bestrafen, brauchen wir auch die Unterstützung der linken Frauen im Parlament», sagt Rickli im «Blick». Und fügt sogleich an, dass oftmals Ausländer solch brutale Gewalt ausübten, weil sie Frauen als minderwertig betrachten würden.

Im Mai des letzten Jahres hatte Rickli Gelegenheit, zu zeigen, wie ernst ihr das Anliegen tatsächlich ist. Damals stand im Nationalrat die Abstimmung zum Schweizer Beitritt zur Istanbul-Konvention an. Das internationale Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt gilt wegen seines umfassenden Ansatzes, der von der Prävention über den Schutz und die Unterstützung der Opfer bis hin zur Strafverfolgung reicht, als Meilenstein. Rickli lehnte die Konvention, die 2011 in Istanbul aufgelegt wurde, ab – wie praktisch alle ihre ParteikollegInnen.

Weil alle anderen Parteien dem Beitritt jedoch zustimmten, trat das Übereinkommen im April dieses Jahres nach jahrelanger Verzögerung endlich in Kraft.

Ungleichstellung als Grundübel

«Es ist ein grosses Plus der Istanbul-Konvention, dass sie nicht nur konkrete Massnahmen, sondern auch eine klare Analyse liefert: Das Ausmass der Gewalt an Frauen hängt fundamental mit dem Niveau der Gleichstellung zusammen», sagt Simone Eggler, Projektleiterin bei der feministischen NGO Terre des femmes Schweiz, und verweist auf das Einleitungskapitel.

Tatsächlich steht dort unmissverständlich: «Die Gewalt gegen Frauen ist der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben.» Folglich sei ein ganz wesentliches Element zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen die Gleichstellung von Frauen und Männern. Anders ausgedrückt: «Solange Gewalt an Frauen in einer Gesellschaft existiert, ist die Gleichstellung der Geschlechter nicht erreicht», sagt Eggler.

Sie hoffe, der nun anlaufende Umsetzungsprozess der Istanbul-Konvention rücke diesen Zusammenhang in den Fokus. «Es ist wichtig, dass die Gleichstellung nicht mehr nur über Lohnfragen oder die Frauenquote gemessen wird, sondern auch über das Ausmass der Gewalt an Frauen.» Entscheidend bleibe letztlich die Frage, wie weit die Umsetzung gehe. Der Auftrag ist eigentlich klar. In Artikel 4 der Konvention steht: «Das Übereinkommen ist ohne Diskriminierung sicherzustellen.» – «Konkret heisst das zum Beispiel, dass die Beratungsangebote künftig auch für Schwerhörige und Gehörlose zugänglich sein müssen», so Eggler. «Ausserdem haben geflüchtete Frauen und Mädchen, die im Herkunftsland oder auf ihrer Flucht Gewalt erlebt haben, heute keinen rechtlichen Anspruch auf Opferhilfe in der Schweiz und damit keinen Zugang zu Beratungen, Therapien und anderen Unterstützungen, die von der Opferhilfe finanziert werden. Diese Lücke im Gesetz muss geschlossen werden.»

Mit der kürzlich erfolgten Ratifizierung ist die Istanbul-Konvention zum offiziellen Massstab für den politischen Willen bei der Bekämpfung der Gewalt an Frauen geworden. Die genaue Lektüre der Übereinkunft offenbart in mehreren Bereichen Handlungsbedarf.

Etwa im Bereich «Datensammlung und Forschung». So teilte das Bundesamt für Statistik auf Anfrage mit, dass derzeit keine Daten spezifisch zur Gewalt an Frauen gesammelt werden (immerhin aber zu «häuslicher Gewalt»). Genau das verlangt die Konvention aber. Zudem wurde die Förderung der Forschung zum Thema lange vernachlässigt (siehe WOZ Nr. 33/2018 ). Die Forschung aus Soziologie, Kriminologie und Medizin kommt übrigens zu praktisch identischen Grunderkenntnissen: Die Gründe, die zu Gewalt an Frauen führen, sind stets multikausal, und sie kommt in allen sozialen Schichten vor.

Isolation erleichtert Gewalt

Ein anderer Bereich, in dem akuter Handlungsbedarf besteht, sind die Frauen- und Mädchenhäuser, die gewaltbetroffenen Frauen und Kindern in der Schweiz seit vierzig Jahren Schutz bieten. «Zunächst einmal ist das öffentlich bekannte Ausmass an Gewalt gegen Frauen erschreckend hoch», sagt Marlies Haller, die im Vorstand der Dachorganisation der Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) sitzt. Die Polizei registrierte 2016 rund 17 700 Straftaten im häuslichen Bereich, knapp siebzig Prozent der Opfer sind weiblich. Durchschnittlich jede zweite Woche wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner umgebracht.

«Die Frauenhäuser, die übrigens nicht in allen Kantonen vorhanden sind, sind als Kriseninterventionsstellen oft komplett ausgelastet. Die aktuelle Kapazität von knapp 300 Betten für die ganze Schweiz reicht nicht aus. Der Schlüssel, den der Europarat empfiehlt, liegt für vergleichbare Länder bei 750 Betten», sagt Haller. Neben der zu hohen Auslastung sei an vielen Orten die Finanzierung ein Problem. «Aktuell finanzieren sich die Frauenhäuser bis zu einem Drittel aus privaten Spenden. Der Aufwand, den das bereitet, ist gross. Es sind Ressourcen, die dann in der Betreuung und Beratung fehlen», so Haller.

Auch Jacqueline De Puy, Soziologin und Studienbeauftragte der Abteilung für Gewaltmedizin (UMV) am Universitätsspital Lausanne, sieht in mehreren Bereichen Handlungsbedarf: «Es ist wichtig, dass die Opfer von Gewalt möglichst einfach Hilfe und Unterstützung erhalten und dass sie wissen, dass nicht sie selbst für die erlittene Gewalt verantwortlich sind. Die Scham und die Isolation erlauben das Fortdauern der Gewalt», sagt De Puy. Bezüglich der Früherkennung und Betreuung der erlittenen Gewalt spielen Ärztinnen, Psychiater und Psychologinnen eine wichtige Rolle. «Idealerweise sollten alle in der Schweiz lebenden Personen darüber informiert sein, dass Gewalt etwas Inakzeptables ist, etwas, das niemand tolerieren muss.»

De Puy sieht aber auch den Bund und die Kantone in der Verantwortung und nennt Massnahmen wie öffentliche Informationskampagnen, Präventionsprogramme für Junge, gezielte Weiterbildungen oder eine engere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen im Feld sowie genug Anlaufstellen und Unterkünfte für die Opfer. Aber auch sozialpädagogische Programme für Täter und Täterinnen.

Verhaltener Bundesrat

Der Bund und die Kantone stehen nun in der Pflicht, die Konvention umzusetzen. Am 13. November findet unter der Regie des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) eine nationale Konferenz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention statt. Sie wird zum ersten Gradmesser des politischen Willens bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen sein.

Die Vorzeichen stimmen nicht unbedingt optimistisch. Der Bundesrat hält in seiner Botschaft zur Konvention lapidar fest, dass die Schweiz den Anforderungen genügen würde. Finanzielle und personelle Auswirkungen auf Bund und Kantone schätzt er als «geringfügig» respektive «bewältigbar» ein.

Bleibt die Frage, wie die vom «Blick» zur Vorzeigekämpferin gegen Gewalt an Frauen erhobene Natalie Rickli ihre Ablehnung der Istanbul-Konvention begründet: «Sie ist für die Galerie, der Bundesrat sagt es ja selber.» Die Schweiz, so Rickli, erfülle die Anforderungen bereits.