Von oben herab: Bei Gott

Nr. 47 –

Stefan Gärtner über den Vater, den Sohn und die Walliser Verfassung

Gott hatte schlecht geschlafen, oder wenigstens zu wenig. Alte Leute, hiess es, benötigten nicht mehr so viel Schlaf, seien um sechs wach und ässen um elf zu Mittag. Aber mochte Er auch nicht mehr der Jüngste sein, so fühlte Er sich doch längst noch nicht alt genug, um jeden Tag, den Er werden liess, mit SRF 1 oder Taubenfüttern zuzubringen, was ohnehin Quatsch war, weil auch die Tauben in Seinem himmlischen Reiche sämtlicher Not überhoben waren.

Ausführlich rieb sich Gott Gesicht und Augen und unterdrückte den Gedanken, heute vielleicht einmal nicht dazu aufgelegt zu sein zu sehen, dass es gut war; wo es ja letztlich doch nicht gut war. Er war neutral, logisch, mischte sich nicht ein, konnte es auch nicht, denn Er hatte halt zuallerst die Naturgesetze geschaffen, ja, er war sie geradezu, laut Spinoza jedenfalls; und das hatte zwar den Vorteil, dass Er über sehr viel Tagesfreizeit verfügte, bedeutete aber auch, dass Er alles geschehen lassen musste: Pest, Hitler, Trump. Gott seufzte. Man machte einen Fehler und zahlte ewig dafür. Wer hatte sich diese Scheisse bloss ausgedacht? Herrgott!

Eh Er in fruchtloses Grübeln geriet, spürte Er seinen Sohn sich nähern, der seinerseits längst wach war und Ihm sanft die Schulter drückte, und wie jedes Mal seit bald 2000 Jahren ertappte sich der Vater dabei, dass Ihm Petrus lieber gewesen wäre, obwohl Ihn dessen Wetterbericht nun wirklich nicht interessierte. Aber Sein Gewissen, es zwickte Ihn noch immer, denn das war ja nun geradezu noch dümmer gewesen als die Sache mit dem Naturgesetz: den Sohn zu Tode martern zu lassen, nur damit die irdischen Trottel Vernunft annähmen und Seine Schöpfung in Liebe verwalteten! Da hatte Er, in einem Akt wahrhafter Selbstverleugnung, seine eigene Naturgesetzlichkeit schon gebogen, bis es krachte, und wofür? Dafür, dass Er – Gott selbst! – es nicht wagte, den Blick auf die Hand des Sohnes zu richten, obwohl da freilich alles längst verheilt war …

Er hob den Blick, und der Sohn lächelte, denn er war bekanntlich ein grosser Verzeiher, das war ja nun mal seine Unique Selling Proposition, nicht wahr …

«Schon gesehen, Paps?», fragte Jesus und hielt dem Alten freundlich einen Wisch hin, und Gott brummte und nahm das Blatt, das ein Flugblatt war oder eine Postwurfsendung, darauf das Bild eines lauthals lächelnden jungen Mannes, der sich «Stephane Christian Revey» nannte, sich u. a. als «Mitglied des Komitees CVP Leuk» auswies und dafür warb, dass man ihn «in den Verfassungsrat» schicken möge. Gott suchte nach einem Hinweis, was das erstens bedeute und zweitens Ihn angehe, und fand einen stilisierten Textausriss am oberen Ende des Schreibens: «Verfassung des Kantons Wallis vom 8. März 1907. Im Namen Gottes des Allmächtigen!»

Ratlos sah Er Jesus an, und der Filius lächelte so mild wie immer und erklärte: «Sie stimmen da über eine neue Verfassung ab und wollen dich hinauswerfen. Du bist, finden sie, nicht mehr zeitgemäss. Glauben ja nicht mehr alle an dich, um wie viel weniger an mich.» Jesus lächelte weiter, nicht einmal melancholisch, eher so, als sei er nicht ganz richtig im Kopf. «Aber die CVP ist auf deiner Seite.»

Jesus seufzte und setzte sich neben den Vater, indem er die Hände unter die Schenkel schob, und der Alte, obzwar er die Geste kannte, nahm sie neuerlich dankbar zur Kenntnis.

«Wenn Ich allmächtig wäre», sagte Er und war gleichzeitig wach und wieder müde, «bräuchten sie keine Verfassung.»

Der Sohn nickte, lächelte freilich sowieso, und der Vater stupste ihn zart und fragte: «Sagst du es ihnen?»

Und der Sohn fragte zurück: «Bin ich Jesus?»

Und sie lachten so laut und so lange, dass Petrus auf der Ferse kehrtmachte. Das Wetter, es hatte wohl Zeit.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.