Ljudmila Alexejewa (1927–2018): Im felsenfesten Glauben an die hoffnungslose Sache

Nr. 50 –

Seit Jahrzehnten gehörte die Bürgerrechtlerin Ljudmila Alexejewa zu einer kleinen Gruppe Aufrechter in Russland. Die langjährige Mitstreiterin Irina Scherbakowa erinnert sich.

In Moskau ist am 8. Dezember – dem Tag, an dem Ljudmila Alexejewa mit 91 Jahren starb – eine Ära zu Ende gegangen. Scherzhaft sprachen wir von der «Grossmutter der Bürgerrechtsbewegung». Und auch sie selbst nannte sich «Oma Ljuda», auch wenn sie nie der russischen Babuschka glich, die in Kopftuch und Pantoffeln auf einer Parkbank sitzt. Zu unserer Oma machten sie ihre Herzlichkeit, ihre Offenheit und Gastfreundschaft.

Alexejewas Biografie ist ein Lehrbuchbeispiel der sowjetischen Geschichte. 1927 auf der Krim geboren, wächst sie in der Obhut der Grossmutter auf. Die Estländerin erzieht Alexejewa protestantisch, lehrt sie, immer aufrichtig und fleissig zu sein. Ein Gebot, dem die Enkelin ihr Leben lang zu folgen versucht.

Anfang der dreissiger Jahre zieht Alexejewas Familie nach Moskau, lebt erst in einer Baracke am Stadtrand, dann in einer typischen Wohngemeinschaft. Wie durch ein Wunder bleibt der Vater vom Grossen Terror unter Stalin verschont. Er stirbt an der Front, als Alexejewa vierzehn ist.

Der Zweite Weltkrieg bleibt das tragischste Ereignis ihres Lebens, das ihr Verhältnis zu den Menschen prägt: Die Erinnerung an das mit Millionen anderen geteilte Leid verlässt sie nie. Sie studiert Geschichte, tritt 1952 in die Kommunistische Partei ein. Hochschwanger geht sie zu Stalins Beerdigung, sein Tod ist für sie von historischer Bedeutung.

Leben im Büro der Helsinki-Gruppe

In den Memoiren, die sie viele Jahre später schreibt, schmückt Alexejewa nichts aus, rechtfertigt sich nicht. Erst als Nikita Chruschtschow 1956 von Repression und dem Personenkult um Stalin spricht, begreift sie das wahre Wesen der Sowjetherrschaft. Wie viele junge Mitglieder der Intelligenzija saugt sie begierig alles über das Gulagsystem auf, lauscht den Erzählungen jener, die aus den Lagern zurückkehren. Es ist die Zeit der Hoffnung und hitziger Diskussionen in Moskaus Küchen.

In den sechziger Jahren lässt sich Alexejewa zur Schreibkraft ausbilden, um verbotene Literatur abzutippen und zu verbreiten. Sie heiratet den Mathematiker Nikolai Williams, der selbst im Straflager war. Damals beginnt die Repression: Alexejewa verliert ihren Job, wird aus der Partei ausgeschlossen, mehrfach durchsucht der KGB ihre Wohnung. Unzählige Male wird sie von den Behörden vorgeladen.

1976 ruft eine Gruppe DissidentInnen in der Wohnung des späteren Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow die Moskauer Helsinki-Gruppe ins Leben. Alexejewa ist von Anfang an dabei. Sie sammeln Berichte über Menschenrechtsverletzungen in den Republiken der Sowjetunion und informieren die Mitglieder der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). «Es heisst, bei uns zu Hause befinde sich das Büro der Helsinki-Gruppe, doch das stimmt nicht: Wir leben im Büro der Helsinki-Gruppe», pflegte Alexejewas Mann zu sagen. Sich selbst nannte sie das «Arbeitspferd der Menschenrechtsbewegung».

1977 wird klar: Verlässt sie das Land nicht, kommt sie ins Straflager, wo sich damals schon viele MitstreiterInnen befinden. Sechzehn Jahre lang lebt sie in den USA, wird Teil der internationalen Menschenrechtsbewegung.

Glück für die Zivilgesellschaft

Wie viele Andersdenkende kehrt sie nach der Perestroika in ein anderes Russland zurück, wird Vorsitzende der Helsinki-Gruppe, die sie bis an ihr Lebensende präsidiert. Damals lernte auch ich sie kennen, in einer schweren Zeit wurden wir zu GefährtInnen. «Mit dem Zerfall der Sowjetunion erhielten die Menschen bescheidene Bürgerrechte, doch wurden sie sogleich in neues Unglück gestürzt: nicht ausbezahlte Gehälter, unrechtmässige Kündigungen, lächerlich niedrige Renten. Wir eröffneten eine kostenlose juristische Beratung», erinnerte sich Alexejewa einmal in einem Interview. Zweifellos hatte die russische Zivilgesellschaft grosses Glück, dass Alexejewa nach Russland zurückgekehrt war. Ihr Wort hatte Gewicht, ihre Kontakte zu internationalen NGOs waren unerlässlich, ihre Hilfe ständig gefragt.

So schwierig es damals für uns war – niemand konnte erahnen, was zwanzig Jahre später kommen würde. Je stärker das Regime die Freiheit beschneidet, desto mehr wird Alexejewa angegriffen: Im Fernsehen beschuldigt man sie der Spionage, in kremlnahen Jugendlagern wird ihr Porträt als «Bild einer Volksfeindin» zur Schau gestellt. An einer Kundgebung im Jahr 2010 verprügeln Spezialkräfte die damals 83-jährige Alexejewa. «Da sitze ich mit lauter Jugendlichen im überfüllten Polizeiwagen, die alle ‹Russland ohne Putin› skandieren, und erkläre: Bitte keine Parolen! Effektiver ist es, ohne Geschrei zu demonstrieren», erinnerte sie sich.

Die Annexion der Krim und der Ukrainekrieg haben sie hart getroffen. Doch am schlimmsten war für sie, dass die meisten RussInnen das Regime unterstützen. «Ich hatte gehofft, dass seit dem Ende der Sowjetunion das ‹imperiale Syndrom› in den Menschen verschwunden sei. Stattdessen blieben wir ein imperialistisches Volk», sagte sie. Ihre Lösung: so zu leben, wie sie es für richtig hielt. «Ich werde niemals mit der Mehrheit zusammen mit dem Schwanz wedeln», versprach sie.

Schwierig waren auch die letzten Jahre ihres Lebens. Als Mensch des Dialogs lehnte sie auch das Gespräch mit dem Regime nie ab. In der angespannten Situation, in der sich die russische Opposition befindet, stiess das nicht immer auf Verständnis. Alexejewas Verdienst war: Sie überzeugte andere davon, dass Russlands Demokratisierung eines Tages käme – auch wenn sie wusste, dass sie das selbst nicht mehr erleben würde.

Entsprechend waren die Worte, die Alexejewa kurz vor ihrem Tod an die Bürgerrechtsbewegung richtete. Sie wurden ihr politisches Vermächtnis. «Wir müssen an unsere Werte, die historischen Erfahrungen und den Verstand appellieren. Wenn wir überzeugend sind, wird der Erfolg auf unserer Seite sein. Als wir mit unserer schwierigen Arbeit begannen, hatten wir viel weniger Grund für Optimismus als heute. Doch wir waren felsenfest vom Erfolg unserer hoffnungslosen Sache überzeugt!»

Ich werde nie vergessen, wie Alexejewa vorbeikam, um den SchülerInnen des Geschichtswettbewerbs zu gratulieren, den ich seit über zwanzig Jahren für die Menschenrechtsorganisation Memorial veranstalte. Sie erzählte von ihrer Kindheit im Krieg, liebte es, sich zu erinnern – so authentisch, wie es nur jemand kann, der nicht in der Vergangenheit verharrt. Das letzte Mal war vor zwei Jahren. Der Gang zur Bühne kostete sie viel Kraft, doch als sie zu sprechen begann, sprang der gesamte Saal auf, minutenlang war der Applaus am Schluss zu hören.

Die Moskauer Historikerin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa (69) ist Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, in der sich ab 1987 ehemalige Lagerhäftlinge und politische DissidentInnen versammelten.

Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.