Jiddische Musik: Wie ein Soundtrack zu «Inglourious Basterds»

Nr. 2 –

Songs voll Lebenswille, Zorn und Galgenhumor: Mit den Widerstandsliedern der sowjetischen JüdInnen ist ein musikalischer Schatz gehoben worden.

MusikerInnen vereint: «Yiddish Glory» ist eine internationale Kooperation. Foto: Six Degrees Records

Als der Vormarsch der Roten Armee 1944/45 den ehemaligen jüdischen Rayon wieder zugänglich machte, reisten die Musikethnologen Moisei Beregowski und Ruwim Lerner sofort dorthin. Im heutigen Weissrussland, in Litauen und der Ukraine suchten sie nach den Spuren, die der Krieg in der sowjetisch-jüdischen Folklore hinterlassen hatte. Es sollte eine Anthologie entstehen, doch die Pläne wurden bald vom Stalinismus durchkreuzt.

Beide Wissenschaftler wurden im Rahmen der antisemitischen Terrorkampagne gegen «vaterlandslose Kosmopoliten» verhaftet, ihre Materialien beschlagnahmt. Erst Stalins Tod befreite sie aus dem Lager. Beregowski starb 1961, Lerner 1972, beide im Glauben, ihre Notizen seien vernichtet worden. Es sollte bis in die neunziger Jahre dauern, bis die Materialien im Archiv der ukrainischen Nationalbibliothek wieder auftauchten – unkatalogisiert, in unbeschrifteten Kisten, von allen vergessen.

Der Wille zum Weiterleben

Damit war ein Schatz gehoben. Die kanadische Historikerin Anna Shternshis konnte dank ihm für ihr 2006 erschienenes Buch «Soviet and Kosher» die längst vergessene säkulare jiddische Populärkultur der sowjetischen JüdInnen neu entdecken. Vielen HistorikerInnen hätte das schon genügt – sie aber brachte engagierte MusikerInnen zusammen, um diese Lieder auch wieder erklingen zu lassen und ihren AutorInnen eine Stimme zurückzugeben.

Dem ging Detektivarbeit voraus. Nur in Ausnahmefällen waren musikalische Notationen überliefert. Die Beteiligten konnten die Texte oftmals nur anhand des Versmasses oder bestimmter Begriffe einer populären Melodie zuordnen. Federführend bei diesen Arbeiten war Psoy Korolenko, der als Sänger bei den meisten Aufnahmen auftritt: ein promovierter Literaturwissenschaftler, der sich in den russischen Neunzigern als postmoderner Chansonnier, später als eigenwilliger Klezmer-Interpret einen Namen machte.

Herausgekommen ist ein achtzehn Stücke starkes Album voller Lebenswille, Zorn und Galgenhumor. Wie es im Neujahrslied «Tsum nayen yor 1943» heisst: «Genug uns shoyn tsu yamern, genug uns schoyn tsu klogn.» Nicht, dass es auf dem Album keine Lieder der Trauer gäbe – das von einer 73-jährigen Überlebenden 1947 gedichtete «Babi Yar» gehört zu den bewegendsten Zeugnissen des Massakers in der Schlucht bei Kiew. Doch es dominierten der Spott über den deutschen Feind, die Anpreisung jüdischer Helden in der Roten Armee und der Wille zum unbedingten Weiterleben. Vor Zweckoptimismus strotzt etwa «Shelakhmones far Hitlern» (Purim-Geschenke für Hitler), wo Letzterer in eine Reihe mit berüchtigten Antisemiten der Weltgeschichte gestellt wird: Wenn wir die schon überlebt haben, werden wir den auch noch überleben! Der industrielle Massenmord schwingt im Hintergrund mit, aber eine Sprache für seine Beschreibung ist noch nicht gefunden. Dabei erschwerte das Tabu, mit dem die Schoah in der Sowjetunion praktisch sofort belegt wurde, diese Suche nur weiter.

Segenssprüche für Stalin

Ein weiteres Motiv, das sich durch die Lieder zieht, ist das der Rache, die mit alttestamentarischer Brachialität herbeigesungen wird. In «Misha tserayst Hitlers Daytshland», das einen wunderbaren Soundtrack für Quentin Tarantinos «Inglourious Basterds» abgegeben hätte, singt der auf Deutschenjagd durch Ostpreussen ziehende Protagonist: «Vi verzante mayze loyfn, in di lekher, in di shpaltn / Mir veln ober zey opzukhn, un zey zoln zikh bahaltn!» (Wie vergiftete Mäuse laufen sie in die Löcher, in die Spalten / Wir aber wollen sie aufspüren, sosehr sie sich auch verstecken mögen!). Hier ist ein Zeugnis von der unbändigen, glühenden Wut, die JüdInnen angesichts der erbarmungslosen Auslöschung ihrer FreundInnen und Verwandten erfasste. Wut, die sich nicht zuletzt in der Entschlossenheit vieler Überlebender manifestierte, dem mörderischen Kontinent ganz den Rücken zu kehren und sich einen eigenen Staat zu erkämpfen.

Israel ist in den hier versammelten Liedern selbstverständlich kein Thema. Die AutorInnen repräsentieren das loyale, assimilierte sowjetische Judentum, das sein Schicksal in die Hände der Sowjetunion gelegt hatte – ohne dabei jedoch auf eine spezifisch jüdische Stimme zu verzichten. Auch der «khaver» (Genosse) Stalin wird so eingemeindet und als Retter der Judenheit mit Segenssprüchen bedacht. Aussen vor bleiben dabei nicht nur die Stimmen der orthodoxen und zionistischen JüdInnen, sondern auch derjenigen, die für eine säkulare und antistalinistische jüdische Kultur standen.

Nur wenige Jahre bevor die hier versammelten Lieder entstanden, wurden die Führer des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds, Henrik Erlikh und Viktor Alter, in Stalins Gefängnissen ermordet. Doch der Geist dieser sozialdemokratischen Massenpartei, Speerspitze einer linken jiddischen Kultur, findet sich gewissermassen als Schmuggelgut auf dem Album. Das in «Chuvasher tekhter» ins Feld geführte Motiv von den hellen Sternen, unter denen die Rotarmistinnen ihren Schwur ablegen, ist eine unverkennbare Reminiszenz an «Di Shvue», die Parteihymne des Arbeiterbunds.

Yiddish Glory: The Lost Songs of World War II. Six Degrees Records. 2018