Kino-Film «The Raft»: Das verlorenste Labor der Welt

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Was ihm vorschwebte, war ein wissenschaftlicher Versuch als Beitrag zum Weltfrieden. Was dabei herauskam, war eher eine Realityshow, lange vor «Big Brother» und ähnlichen Formaten. Die Rede ist vom Anthropologen Santiago Genovés, der 1973 mit zehn Leuten auf einem Floss den Atlantik überquerte, um ihr Verhalten in dieser Extremsituation zu studieren – ein schwimmendes Labor ohne Motor und ohne Eskorte, denn der Gewaltforscher wollte es seinen Versuchspersonen möglichst schwer machen. Etwas betrüblich für Genovés: Die Medien interessierten sich seinerzeit mehr für schlüpfrige Details und berichteten freudig über das «Sexfloss».

Von denen, die damals mit dabei waren, leben heute noch fünf Frauen und ein Mann. Der schwedische Regisseur Marcus Lindeen versammelt diese nun in seinem Dokfilm «The Raft», für den er in einer Halle eigens eine Kopie des Flosses hat anfertigen lassen. Hier treffen sich die Verbliebenen und gehen nochmals an Bord, um sich an ihr wissenschaftlich verbrämtes Abenteuer von damals zu erinnern. Lindeen montiert dazu Archivbilder vom Floss, und aus dem Off liest ein Schauspieler aus den Aufzeichnungen des 2013 verstorbenen Forschers.

Das Ereignis von «The Raft» ist die späte Reunion der Versuchspersonen: ihre zögerliche Annäherung, wie sie einander auf die Sprünge helfen oder widersprechen – und in ihrer Expedition sogar eine Art von sozialer Utopie erkennen. Etwas bemüht wirkt dagegen, wie der Film die Figur des Forschers allmählich entzaubern will. Was gibts da zu entzaubern? Dessen Vorhaben war methodisch so unterbelichtet, dass man es gar nie ernst nehmen kann, und Genovés selber erscheint in seinen Notizen von Beginn weg als selbstherrlicher Narzisst. Als einer, der sich grosse Erkenntnisse über die Gewaltdynamik in einer Gruppe verspricht und am Ende auch noch stolz darauf ist, als er bei der traurigen Selbsterkenntnis landet, dass nur einer auf dem Floss wirklich Gewalt ausgeübt hatte: er selber.

The Raft. Regie: Marcus Lindeen. Schweden/Dänemark 2018