Friedrich Wilhelm Raiffeisen: Der solidarische Pionier als alter Antisemit

Nr. 7 –

Es ist notwendig, dass die Raiffeisen-Bewegung ihre antisemitischen Wurzeln und den späteren Umgang damit untersuchen lässt.

Die Raiffeisenbank hat einen guten Ruf – hatte ihn zumindest, bis die Machenschaften von Pierin Vincenz ans Tageslicht kamen. Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) gilt als Pionier des Genossenschaftswesens, als Überwinder der ländlichen Armut durch Selbsthilfe und Solidarität. Zu Recht? Der deutsche Soziologe Wilhelm Kaltenborn hat in seinem Buch «Raiffeisen. Anfang und Ende», das letztes Jahr zum 200. Geburtstag von Raiffeisen erschien, ein ganz anderes Bild gezeichnet. Als Erster hat er die antisemitische Schlagseite von Raiffeisen offengelegt.

Raiffeisen hat sich nicht beiläufig, sondern mindestens dreimal zuhanden einer grösseren Öffentlichkeit antisemitisch geäussert: 1881 publizierte er den Aufsatz «Die Judenfrage» und behandelte aus historischer Sicht «Die Juden in Spanien». 1885 hielt er am Vereinstag eine Rede, deren Inhalt sich im Protokoll findet. Die antisemitischen Positionen von Raiffeisen kann man so zusammenfassen: Die Juden sind Wucherer, sie betrügen, sie meiden körperliche Arbeit, sie profitieren von der Spekulation. Sie missbrauchen die Presse und mischen sich in christliche Angelegenheiten ein. Sie beherrschen den Vieh- und den Geldmarkt. Sie streben seit dem Mittelalter nach Herrschaft, ihre Vertreibung 1492 aus Spanien war die Strafe für den Verrat an den Westgoten. Wären die Juden nicht aus Spanien vertrieben worden, wären ihnen die Reichtümer Amerikas in die Hände gefallen. Es hatte sich schon damals eine «goldene Internationale» gebildet, aus deren Fesseln sich Europa nicht mehr hätte befreien können.

Rückwärts ins 1938

1938 fand in Neuwied eine Feier statt. Die Stadt am rechten Rheinufer hatte ihrem berühmtesten Bürger 1902 ein Denkmal errichtet. Das Gedenken an den 50. Todestag Raiffeisens übernahmen nun die Nazis, weil sich dessen Antisemitismus für eine Instrumentalisierung eignete. An NSDAP-Prominenz waren Reichsbauernführer Walther Darré sowie Gauleiter Gustav Simon anwesend. In seiner Rede sagte Letzterer: «Wir dürfen daher als Nationalsozialisten Friedrich Wilhelm Raiffeisen als einen der unserigen nennen. (…) Wir Nationalsozialisten bejahen Raiffeisen auch deshalb, weil er dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einen starken Schlag versetzt hat. (…) Er hat das deutsche Bauerntum frei gemacht aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer (…).»

Auch Schweizer waren mit dabei: unter anderem der Direktor des Schweizerischen Bauernverbands, Ernst Laur, und von der Raiffeisen-Bewegung Johann Heuberger, Direktor der Revisionsabteilung des Verbands der schweizerischen Darlehenskassen. Laur hatte 1934 verkündet, die Erhaltung des Bauernstands sei «schliesslich wichtiger als die Erhaltung der Demokratie», und sich schon 1936 auf der «Reichsnährstandsschau» der NS-Blut-und-Boden-Ideologie angedient. Heuberger, der 1937 auf Betreiben von Laur in den Bankrat der Nationalbank gewählt worden war, fasste nach seiner Rückkehr im «Schweizer Raiffeisenboten» die Vorträge der NSDAP-Parteigrössen zusammen und berichtete über den Anlass, ohne eine politische Wertung vorzunehmen.

Vorwärts ins Jahr 2024

Auch die Schweizer Raiffeisen-Bewegung war nicht frei von antisemitischen Strömungen. Entsprechende Äusserungen finden sich beim bernischen Genossenschaftspionier Edmund von Steiger, bei Johann Evangelist Traber und bei Georg Beck, der von 1902 bis 1912 Trabers Stellvertreter im Raiffeisen-Vorstand war. Da ist von «Wucher und Judenhandel» die Rede, da übervorteilt «der Jude» alle anderen und «reist mit etlichen Tausendern Gewinn vergnügt ab», da gibt es «Geldjuden», die «mit ihren grünen und blauen Scheinen aus den Löchern hervorkommen, wie die Feldmäuse zur Osterzeit».

Solches wird jedoch in der Raiffeisen-Publizistik nicht in einen Antisemitismuszusammenhang gesetzt, sondern man spricht von «Ressentiments». Damit stellt man sich in eine unrühmliche Reihe mit dem deutschen Kirchenhistoriker Michael Klein, der in seiner Dissertation von 1997 geschrieben hatte: «Es zeigt sich, dass auch Raiffeisens Stellung zum Judentum nicht frei von Ressentiments ist. Darin war er leider ein Kind seiner Zeit. (…) Es zeigt sich ferner, dass Raiffeisen bemüht war, seine Meinung wissenschaftlich zu fundieren oder ggf. zu korrigieren. Doch die Literatur, die ihm zu Gebote stand, ermöglichte dies nicht.»

Die Schweizer Raiffeisen-Bewegung mit ihrem Historiker Hilmar Gernet wäre deshalb gut beraten, im Hinblick auf «125 Jahre Gründung der ersten Genossenschaft in Bichelsee» an einem historischen Seminar oder beim Zentrum für jüdische Studien in Basel eine Studie zu initiieren, die die antisemitischen Wurzeln der Raiffeisen-Bewegung und den späteren Umgang damit untersucht. Auf dass man im Jubeljahr 2024 zurückblicken und feststellen kann: Die Turbulenzen um Pierin Vincenz haben mit dem Antisemiten Raiffeisen nichts zu tun – ausser der Erkenntnis, dass man in der Geschichte und in Unternehmen nicht weg-, sondern immer genau hinschauen sollte.

Hans Fässler ist Historiker und erforscht die Verwicklungen der Schweiz in den transatlantischen Sklavenhandel. Schweizweit bekannt wurde er, weil er das Agassizhorn umbenennen will, das den Namen des rassistischen Naturforschers Louis Agassiz (1807–1873) trägt. Eine längere Version dieses Artikels findet sich auf der Website des Ostschweizer Kulturmagazins «Saiten»: saiten.ch .